Mittwoch, 23. Januar 2013
Herr Lehmann II
„Nehmen Sie Platz.“
Herr Lehmann- nein- ich setze mich auf den tief-weichen Stuhl.
Mein Gegenüber ein bärtiger Mann mit Brille.
Ich kratze an den Stuhllehnen, dem weichen Polsterbezug herum. Ungeachtet dessen notiert der Mann etwas auf einem kleinen Notizblock.
„Erstmal möchte ich mich vorstellen.“
Er nimmt die Brille ab und ich störe mich an seinem direkten Blick.
„Nicht nötig.“ Ich nicke in die Richtung seines Namensschildchens, auf dem sogar sein Doktortitel hervorgehoben ist.
Er schaut mich kurz verdutzt an., fängt sich aber schnell wieder.
„Gut. Herr.. äh…“
„Lehmann.“ Ich beuge mich vor, ganz nah an seinen Schreibtisch heran „Ich heiße Lehmann.“
„Ähm. Genau.“ Nervös fährt sich der Doktor durch die Haare. „Dann wollen wir doch anfangen.“
Ich lehne mich wieder zurück und beobachte sein blassblaues Gesicht.
„Erzählen Sie mir etwas … aus ihrem Leben. Was beschäftigt sie, Herr Lehmann?“
„Ihre Haare. Wann haben sie die das letzte Mal gewaschen?“
Wieder fasst er sich nervös an den Kopf. Ich lächele. Freundlich.
„Ich... ähm… wie kommen sie darauf?“
„Sie haben mich doch gefragt was mich beschäftigt.“
Ein nervöses Auflachen „Ja. Ja, genau.“ Er notiert etwas. „Denken Sie häufig an Reinheit Herr Lehmann?“
Reinheit. Denke ich und lächele in mich hinein.
„Was meinen sie mit häufig?“ Frage ich, anstatt etwas an dem Begriff der Reinheit auszusetzen.
„Naja, so oft, dass es ihr ganzes Denken beeinflusst.“
„Also ob ich so oft daran denken muss, wie sie an Sex?“
Eine kurze Stille tritt ein. Das Gesicht meines Gegenübers verfärbt und verzerrt sich.
„Was erlauben Sie sich?“
Er steht auf.
„Kennen Sie denn nicht die Statistik? Gehören Sie nicht zu den Normalen?“ Frage ich.
Er setzt sich wieder und zupft nervös an seiner Krawatte.
Nimmt einen Schluck aus seinem Wasserglas.
„Ich denke, das gehört hier nicht hin.“
Aber es gehört hier hin, wie oft ich an Reinheit denken muss.
Ich nicke nur.
Er spitzt die Lippen.
„Vielleicht machen wir mit etwas anderem weiter.“ Kurz befühlt der Doktor seine Stirn „Wie würden Sie ihre Kindheit in einfachen Worten beschreiben?“
Ich atme tief durch. Ein paar Bilder kommen mir willkürlich in den Sinn und ich beginne distanziert zu erzählen.
„Meine Kindheit war vorbei als ich neun Jahre alt war und meine Mutter mir ein vergiftetes Butterbrot mit zur Schule gegeben hat.“
„Was?“ Mein Gegenüber hält sich reflexartig die Hand vor den Mund.
„War nur ein Witz.“ Sage ich trocken.
„Ah… Achso.“
Ein Räuspern.
„Sie zeigen sich wenig kooperativ, Herr Lehmann.“ Wieder notiert er sich etwas und schüttelt den Kopf.
„Sie sich auch. Sie haben nicht einmal gelacht.“
„Ich bin ja auch nicht verrückt.“ Abweisend schüttelt er den Kopf.
„Achso.“ Ich trommle mit meinen Fingerspitzen auf dem Schreibtisch herum.
Wieder ein Räuspern und ein nervöses Zucken.
„Können Sie das bitte unterlassen.“
„Was?“
Ich stelle kurz das Atmen ein- nein, das kann es nicht sein.
Der Doktor deutet auf meine Finger.
Ich lege sie in den Schoß und bekomme ein mehr als bissiges Danke zu hören.
„Schön. Vielleicht wollen sie mir ja erzählen, warum sie glauben, dass sie hier sind.“
„Warum ich glaube, dass ich hier bin?“ Wiederhole ich den Satz um mich seiner Richtigkeit zu bestätigen.
Mein Gegenüber nickt.
Ich schaue an mir herunter, betrachte meine Hände und drehe sie unter meinen Blicken.
„Weil mir meine Sinnes- und Wahrnehmungsdaten das vermitteln. Ich könnte mich natürlich auch täuschen-“
„Aber wie kommen Sie denn jetzt darauf?“ Unterbricht er mich schäumend.
„Sie haben mich doch gefragt, warum-“
„Ich WIEß, was ich sie gefragt habe!“
Schnaubend wischt er sich mit einem Taschentuch, dass er aus seiner Schublade befördert hat, über die Stirn.
„Ich meine natürlich- Herr Lehmann – ich meine, ob sie wissen, was sie in diese Lage versetzt hat, dass sie nun hier sind.“
Ich überlege kurz.
„Meine Nachbarin meint, ich sei verrückt.“
„Meint sie das?“
Der Zynismus entgeht mir nicht.
„Und warum glauben Sie, ist das so?“
„Weil sie kein erfüllendes Leben hat und ihre Nase überall hineinstecken muss.“
„Erachten Sie es denn nicht als sinnvoll, wenn man in einer Gemeinschaft aufeinander Acht gibt?“
Ich schüttele resigniert den Kopf.
„Aufeinander Acht geben ist etwas anderes. Und nein. Ich halte dieses Schnüffeln im Privatleben anderer nicht für sinnvoll. Schließlich gibt es Menschen die das schon beruflich machen.“
Meinem Gegenüber entfährt ein wütender Ton.
„Sie wollen mich provozieren!“ Er fährt sich durch sein fettiges Haar.
„Ich antworte nur auf Ihre Fragen.“
Als er erbost nach seinem Wasserglas greift, kippt es um und der Inhalt läuft über den Tisch.
Ich beobachte teilnahmslos, wie das Wasser seine Notizen aufweicht.
Erregt springt er auf und versucht das unvermeidbare Unglück mit Taschentüchern aufzuhalten.
„Jetzt helfen Sie mir doch!“ drängt er, während seine Stimme sich überschlägt.
Ich greife nach der Wasserflasche die neben dem Tisch steht und leere ihren Inhalt auf seinen Unterlagen aus.
Das zyklische, unzufriedene Schnauben meines Gegenübers endet in einem langgezogenen, wütenden Schrei.
„RAUS! Raus aus meinem Büro!“
(c)

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