Montag, 28. Januar 2013
Der Angelus Novus
_Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt._
Sigmund war nicht gläubig.
Als er im schlimmsten Schneetreiben die Bibliothek verließ, hatte er ununterbrochen die gelesenen Worte im Kopf.
London war für ihn nie eine schöne Stadt.
Aber im Winter sah es ein wenig so aus, wie in seiner geliebten Heimat.
Geliebt.
Sigmund blieb unter einer Gaslaterne stehen und blätterte noch einmal unruhig durch die Unterlagen in seiner Tasche.
Ja. Ja.
Er hatte es mitgenommen.
Einige Straßen weiter blieb er vor einem Haus stehen.
Er schauderte kurz, aber dann klopfte er.
Ludwig öffnete ihm die Tür.
„Zu so später Stunde?“ Fragte er lachend.
Sigmund drängte sich an ihm vorbei in den Hausflur.
Konnte nicht lachen.
„Ich habe etwas gefunden.“ Flüsterte er auf dem Weg nach oben.
Durch das dunkle, kalte Treppenhaus.
Zur Dachkammer.
Ludwig zündete ein paar Kerzen an.
Doch das war kaum notwendig, Sigmund kannte sie zu gut.
Die staubige Violine in der Ecke, der alte, abgenutzte Tisch.
Zwei Sessel.
Wie viele Nächte und Gedanken hatte er hier verlebt.
Verlebt.
Er förderte ein Buch und einige Blätter aus seiner Tasche.
Begann laut vorzulesen:

_„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“_
Ludwig nickte stumm.
„Du meinst, das ist, wonach wir suchen?“
„Ja.“

Als Sigmund das Haus seines Freundes verließ, hatte es bereits aufgehört zu schneien.
Der Mond stand hoch am Horizont.
Die kalte Nachtluft schmerzte in seinen Lungen.
Sein Weg führte ihn an der Themse vorbei.
Der breite Kanal floss ruhig dahin.
Das Wasser ignorierte die Kälte der rauen Winternacht.
Kälte.
Durch ein ungewöhnliches Geräusch unterbrach Sigmund seine Gedanken und blickte sich um.
Um diese Stunde war keiner mehr auf dem schmalen Fußweg zu sehen.
Und dennoch überkam ihn ein unangenehmes Gefühl.
Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort.
Furcht.
Diese Empfindung sollte gerade ihm fremd sein.
Unwillkürlich kam ein starker Sturm auf.
Sigmund taumelte ein paar Schritte zur Seite.
Umherwehende Schneeflocken verschleierten ihm die Sicht.
Er nahm einen unwirklichen Schrei wahr.
Einen Schrei.
Sigmund riss seinen Kopf herum.
Geblendet von Licht musste er sich die Hand vors Gesicht halten.
Der Sturm fegte den Schnee auf die leuchtende Gestalt zu.
Sigmund zitterte.
Alle Farben wichen.
Der Schrei.
Das Licht.
Der Sturm.
So intensiv, dass es an all seinen Sinnen zerrte.
Vor ihm der Engel.
Der Angelus Novus.
So prächtig, glänzend und leidend.
So überirdisch und perfekt die aufgespannten Flügel.
Er starrte Sigmund direkt ins Gesicht.
Was für ein entsetzlicher Ausdruck auf seinen Zügen.
Sigmund konnte sich nicht mehr halten.
Er fiel auf die Knie.
Tränen liefen über seine Wangen.
Ein Knarren.
Trümmer der Vergangenheit trafen den Engel.
Getroffen.
Verletzt fiel er.
Der Wind ließ nach.
Auf der anderen Seite des Flusses erkannte Sigmund ihn.
Ein Mensch.
Ein Mensch im dreckigen Wasser der Themse.
Qualvoll langsam entzog er sich der Strömung.
Hustend.
Zitternd.
Er drehte sich zu Sigmund.
„Sigmund.“
Ein Flüstern inmitten des rauschenden Wassers.
Oder hatte er sich das nur eingebildet?
„Es ist kein Kopf-“
Wieder ein Husten.
Dann lauter, kratzig:
„Es ist kein Kopfgeist! Es ist kein Kopfgeist den du suchst, den Du finden wirst!“
Kein Wind mehr.
„Der Mensch ist nicht der Fortschritt. Nicht sein Intellekt. Der Mensch ist die starke, leidenschaftliche Empfindung in seiner Brust. Was auch immer sie hervorbringen mag!
Du weißt es doch. Du weißt doch wie der Mensch ist!“
Sigmund erhob sich, als er die Worte hörte.
„Nein! Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. "
Der gefallene Engel lachte matt und höhnisch.
„Ein Laienspiel!
Der Mensch ist das dreckige Wasser dieses Flusses.
Die Gier, der Neid, die Liebe, die Sehnsucht.
Und das erst erschuf mich, den Angelus Novus.
Nicht umgekehrt.
Spürst du nicht den Unterschied, Mensch?“
Sigmund stolperte ein paar Schritte Rückwärts.
Fiel zu Boden.
Auffangen konnte er sich, aber seine Hände schabten über den eisigen Grund.
Das war kein Traum.
Das konnte kein Traum gewesen sein.
(c)

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