Montag, 5. Oktober 2015
Vierundzwanzig II
„Du hast ihn gesehen“
Als die sich Schreie gelegt hatten, war auch ich auf den Boden meines Verließ zusammengesunken. Das schwache, dreckige Licht fiel durch die winzigen Spalten meines Kerkers.
Es musste Dreiundzwanzig sein. Dort wo Stahl in Stein überging, musste er sich an die Wand gelehnt haben, um mit mir zu sprechen.
„Nicht wahr? Du hast ihn gesehen“, wiederholte er.
Nicht lange war es her, da war seine Zelle noch leer gewesen, als gäbe es keinen Insassen, der sie beleben durfte. Erst selten hatte ich seine Stimme gehört.
„Ich weiß nicht, was du meinst“. Meine Worte waren harsch, dennoch robbte ich seiner Stimme entgegen. Zu selten war mein menschlicher Kontakt in diesen Tagen. Zu dicke die Mauern.
„Dein Traum. Du weißt wovon ich spreche!“
Unruhe überkam mich. Die weißen Augen, die mich in dieser Nacht nicht das erste Mal verfolgt hatten, leuchteten in meiner Vorstellung auf.
Ich schwieg.
„Wie ist dein Name?“, es war nur ein Flüstern.
Auch dieser verbotene Frage entgegnete ich mit Schweigen.
Ich versuchte mir eine Vorstellung zu machen, was für eine Person es war zu der dieses Flüstern gehören musste.
Vor allem fragte ich mich, wie seine Augen aussehen mussten.
„Es ist verboten nach dem Namen zu fragen. Vierundzwanzig. Das reicht“, entgegnete ich endlich.
Vielleicht wollte ich, dass er nicht aufhörte zu sprechen. Zu lange waren seine Worte bereits verebbt.
„Wie bist du hergekommen, Vierundzwanzig?“
„Die brennenden Augen haben mich schon vorher verfolgt- bevor ich hierhergebracht wurde“, ich starrte an die gegenüberliegende Zellenwand, die winzigen Lichtflecken beobachtend. „Keine Ahnung wann es angefangen hat. Doch es wurde immer schlimmer. Über die Tage habe ich gelitten und die Nächte war ich wach. Wach. Ich tat alles dafür, um nicht zu schlafen. Weißt du wie es ist Tage, nein, Wochen nicht zu schlafen? Die Wirklichkeit scheint an einem vorbeizufließen, abzulaufen, auszulaufen. Erst schnell und dann immer langsamer. Alle Grenzen lösen sich auf.“
„Erzähl mir von den Augen“
Womöglich hatte ich zu viel gesagt.
„Hast du es gewusst?“ fragte ich, ohne auf ihn einzugehen.
„Was denn?“
„Dass wir in unseren Särgen schlafen. Dass wir jeden Tag unsere Henkersmalzeit genießen dürfen. Dass wir bereits unter der Erde sind. Lebendig begraben“
Dreiundzwanzig schwieg.
„Wie ist dein Name?“, kühner war ich nie gewesen.
„Meine Eltern haben mir keinen gegeben. Ich bin an diesem Ort geboren“.
(c)

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