Dienstag, 4. Juni 2013
Temporale Mirkroangiopathie
„Zuletzt möchte ich noch auf einen Effekt eingehen, der bei thrombotische Mikroangiopathie …“
„Wo wastn gestern?“
Ein Ellenbogen trifft mich in die Seite.
Kein Zucken.
„Da war ‘ne super geile Party in diesem Club, von dem ich dir erzählt habe.“
Klar.
Super geil.
Ich entspanne meine Finger und versuche durchzuatmen.
Ein Blick auf die Uhr.
Das Glas spiegelt mein Auge.
Ich schaue länger drauf als es notwendig wäre.
Folge dem Zeiger, der die Sekunden misst.
Noch eine Sekunde.
Noch eine.
Noch eine.
„Jetzt erzähl‘ doch mal!“
Vorbei.
Ich blicke auf.
„Keine Ahnung.“ Formuliere ich trocken.
Meine Füße fühlen sich so klein an.
Und meine Hände auch.
Alles worauf ich stehen könnte.
Was ich nutzen könnte.
Ich bin kein Feigling.
Ich schaue auf die Uhr.
Sekunde.
Um Sekunde.
„Du bist echt ‘ne coole Sau.“
Ein Kichern.
Vorbei.
Ich stelle mir eine kalte, also eine tote Sau vor.
Wie sie auf einer der Bankreihen hängt.
Und verwest.
Der Geruch von Verwesung.
Ein passendes Element.
Hier.
Jetzt.
Ich lächle.
„Ja, eine coole Sau.“
Wie dekadent.
„Ich wär gern‘ so wie du.“
Meine Gesichtsmuskeln erschlaffen.
So wie ich sein.
Kein Zucken.
Ich bin plötzlich müde.
Ich entdecke eine Regelmäßigkeit in der Reihenfolge der Anordnung meiner Stifte.
Ich fahre sie mit den Fingern nach.
Ich.
Coole Sau.
Geistesabwesend.
Sekunde.
Um Sekunde.
Aber ich bin doch ein Mensch.
Mit Händen.
Und leben.
Ich strecke wie zum Beweis meine Hände aus.
Bemerke meine Armbanduhr.
Sie drückt auf meinen Puls.
Mein Blutgefäß.
Schnürt sich leicht in mein Fleisch.
Bis immer weniger Blut in meine Hände fließt.
Ein Ellenbogen reißt mich aus der Wahnvorstellung.
Vorbei.
„Lass‘ uns heute Abend was machen.“
Mein Blick fällt auf den blonden, lockigen Hinterkopf vor mir.
Ich wünsche mir die Haare herauszureißen.
Mich mit den blonden Locken zu schmücken.
„Nein.“
Kein Zucken.
Sekunde.
Nur eine Sekunde.
„… sehen uns dann nächste Woche.“
Vorbei.
(c)

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Sonntag, 2. Juni 2013
Gewitter in der Nervenheilanstalt
„Sowas…“ Janosch lehnte sich kopfschüttelnd an den Rahmen des geöffneten Fensters, während er hinausblickte.
Warmer Sommerregen prasselte in Strömen auf die schwermütigen Blätter der Kastanienbäume.
Der schwere Duft des Regens erfüllte den Raum.
Regen und Rauch.
Eine seltsame Mischung.
„Warum bist Du hergekommen? Was hast du erwartet?“
Ich nahm auf einem der spartanisch aussehenden Feldbetten Platz.
Und schwieg.
Der Regen sprach für mich.
Ein mehrstimmiges, vielfältiges Rauschen.
„Ich habe auf dich gewartet.“ Sagte ich endlich.
Regentropfen setzten sich als schwarze Punkte auf Janoschs Hemd ab.
Und ein Blitz durchzuckte den dunkler werdenden Himmel über dem Schloss.
Gefolgt von einem Donner.
„Ich weiß.“
Janosch wandte sich vom Fenster ab.
In seinem Gesicht lag Mitleid.
Regennasses Mitleid.
Seine blonden Haare umrahmten strähnig sein Gesicht.
Früher nannten wir ihn Joker,
wegen seiner goldigen Haaren, den weichen Augen und den kecken Gesichtszügen.
Nun war sein Gesicht verhärmt.
Die Jahre hatten tiefe Furchen in seinem Gesicht gezogen.
Tiefe Furchen, die nun von den Tropfen des Regens nachgezeichnet wurden.
„Das ist nun schon lange her.“ Sagte er, als hätte er meine Blicke bemerkt. „Wir sind alt geworden.“
„Ja.“ Ich nickte beklommen und ich erinnerte mich.

Ich finde mich in einem kleinen Raum wieder.
Verschwommen erkenne ich die weißen Fliesen.
Meine Hände auf weißen, kalten Fliesen.
Weit entfernt, dumpf nehme ich Stimmen wahr.
„Verdammt, Janosch, Du weißt, dass ich alles falsch gemacht habe.“
Schreie ich und die Wände hallen.
Mein Gesagtes ertönt in erschreckender Weise wieder.
Und wieder.
Und wieder in meinen Kopf.
Bis ich mit die Ohren zuhalten muss.
Und mich zusammenkrümme auf den eisigen Fliesen.
Eine kleine, nackte Glühbirne taucht den Raum in ein dämmriges Licht.
Bricht sich in den schweißnassen Fliesen.
Ich betrete den Raum nicht
Und habe ihn auch nicht verlassen.
Alles was sich findet, kann gefunden werden.
Für Jedermann. Denke ich.
„Janosch!“
Wieder das Hallen.
Und mein angestrengtes Fluchen, während ich versuche mich aufzurichten.
Ein Spiegel zeigt mir die verkehrte Wahrheit:

Janosch taucht vor mir auf.
Regennass.
Das Geräusch von dicken Regentropfen auf dem weißen Fliesenboden.
Ein Sommerregen in meinem Badezimmer.
Sein grünes Hemd ist nun ganz schwarz und klebt an seinem Leib.
Schwarz auf weißen Fliesen
„Was hast du erwartet?“
Ein Donnergrollen hallt durch den Raum, während die Geräusche des Regens auf den Fliesen meine Gedanken verschlucken.
Ja, was nur?
(c)

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Dienstag, 9. April 2013
Gespräch mit Herrn Lehmann
Da sitze ich nun Herrn Lehmann gegenüber.
„Herr – ah-“
„Lehmann, so heiße ich.“
„Ja, ich weiß. Verzeihung.“
Ich suche in meinen Unterlagen.
Verdammt. Jetzt finde ich sie natürlich nicht.
Lehmanns Finger trommeln ungeduldig auf dem Sitzpolster herum.
„Ich habe es gleich.“
Aus einer braunen Mappe fördere ich ein paar bedruckte Seite zutage und händige sie ihm ungeschickt aus.
So ungeschickt, dass ich an seine Kaffeetasse stoße und den Tisch in einen See verwandele.
„Oh nein. Tut mir schrecklich leid.“
„Schon in Ordnung. Ich mag sowieso keinen Kaffee.“
Ein schmales Lächeln.
„Aber warum haben Sie ihn sich dann bestellt?!“
Das Lächeln wird breiter.
„Warum haben Sie sich Tee bestellt? Sie mögen doch gar keinen.“
„Ich…“
Ja. Tatsächlich. In der Hektik, unter den ungeduldigen Blicken der Kellnerin mit ihren perfekt lackierten Fingernägeln, hatte ich Tee bestellt.
Obwohl ich ihn nicht mag.
Verlegen tupfe ich mit der Serviette den ausgeschütteten Kaffee weg.
„Sie haben nur spekuliert, dass ich Tee in Wirklichkeit nicht mag, oder?“
„Wenn Sie das glauben wollen, ist das wohl so.“
Lehmann beginnt wieder die Unterlagen zu studieren und leise vor sich hin zu summen.
Es ist ein warmer Sommernachmittag.
Ich beobachte die Menschen, die an dem Café vorbeischlendern.
Und ich sehe nicht mehr und nicht weniger als das in ihnen.
Nach etwas Zeit legt Lehmann die Blätter beiseite.
Er schaut mich direkt an.
„Ich könnte Ihnen auch Geschichten erzählen, die die Menschen unterhaltsam finden. Die sie zum Lachen bringen, zum Weinen bringen, zum Lieben und Hassen. Aber ich will nicht unterhalten. Nicht lachen, weinen, lieben, hassen. Das ist so armselig…“
„Emotionen sind armselig?“
„Nein.“ Lehmann fährt sich mit der Hand durch die Haare und lächelt. „Aufrichtige Emotionen nicht.“
„Wollen Sie damit sagen, dass die Unterhaltungsindustrie Emotionen fordert die unaufrichtig sind?“
„Sie sind zumindest eines: Flach.“
Lehmann nimmt den Zucker zur Hand.
Ein wenig davon kippt er auf den Tisch.
Mehrere kleine Häufchen.
_Als hätte ich nicht schon genug Unordnung gemacht._ Denke ich.
„Das sind Emotionen!“ Er zerstreut die Häufchen zu ganzen Flächen. „Facettenreich und nicht fassbar.“
Lehmann beginnt mit der Fingerspitze kleine Kreisformen in den Zucker zu zeichnen.
Beiläufig schaut er mich an.
„Und _die_ will ich bewegen.“
Ein paar der Kristalle fallen vom Tisch.
Ich beobachte ihn.
Dann blinzele ich wieder in die helle Nachmittagssonne.
„Will nicht jeder etwas bewegen?“
Frage ich.
„Ja, natürlich. Seinen Bierbauch zum nächsten Aldi zum Beispiel.“ Murrt Lehmann verächtlich.
Dann sammelt er sich und seufzt.
„Ich will mir gar nicht anmaßen, zu wissen, was die Welt braucht. Ich will niemanden sagen, was er tun soll-“ Er lacht.
Ein trockenes Lachen.
„Ich will nur …“ Er unterbricht sich und lächelt erneut. „Nein. Das müssen Sie herausfinden.“
Mit den Worten steht Lehmann auf.
Und verlässt grußlos das Café.
(c)

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