Samstag, 8. März 2014
Bis zu den Knien im Ozean: Helden weinen nicht
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er dich vermisst hat!“
Ina hatte ihren Rollstuhl direkt an das Fenster gefahren, dass sie den spielenden Jungen im Garten beobachten konnte.
„Es ist so gut, dass du wieder da bist.“
„Ich kann nicht lange bleiben.“ Gequält drückte ich mich an die Spülen der kleinen, aber exquisiten Küche.
Ganz sauber und ordentlich sah sie aus.
Ganz wohnlich und normal. Wie flüssige Menschlichkeit. Flüssiger Alltag aus dem Wasserhahn, in den Gläsern, Tassen und Schüsseln.
Meine Finger verkrampften sich an der harten Kante, als sich Ina zu mir wandte.
Ihr rosige Gesicht schien nicht bemerkt zu haben, welche Qualen ihr Geist und ihr Körper erleiden mussten. Unser Geist, unser Körper. Meine Zwillingsschwester hatte sich nie so chauffiert wie ich, auch wenn sie es so viel schwerer getroffen hatte.
Ihr Blick fiel an mir herab, wie an einem alten Gegenstand.
Kopfschütteln drehte sie sich wieder dem Fenster zu. „Du bist keine gute Schwester.“
Fingernägel, Lieder aus der Kindheit, ganz in greifbarer Nähe ein Schatten, der über mich hinweg flog. Doch die kalte raue Oberfläche blieb an meinen Fingern kleben.
Die kleine Küche meiner Schwester. Und ich zwischen Alltag und Wassergläsern.
Deshalb konnte ich nicht hier bleiben.
Speisestärke und Bindemittel. Irgendwo in diesen Schränken, hinter verschlossenen Türen, an heimlichen Orten.
Keiner wusste es, keiner ahnte es.
Ich war nichtig für diese Welt geworden.
Irgendwo in mir spürte ich ein Verlangen.
Schon immer hatte nicht es aufgeben wollen.
Blinder Fleck auf dem Tischtuch, neben der Gabel, der Forke, dem Dolch in den Rücken gestoßen.
Das war ich meiner Schwester nicht schuldig.
Schweigend verließ ich das Zimmer.
Kein Blick, kein Blick zurück.
Kein Blick, kein Anblick.
Dieses Leben fürchtete – mich.
Auf der Straße weinten die falschen Helden.
Inas Wohnviertel war ganz normal.
Ganz bürgerlich und eingerichtet. Ganz menschlich, ganz alltäglich.
Ganz schön, zwischen Kant und Kandis. Morgenzeitung und Mittagsschlaf.
Dort, wo die Laternen schon am Vormittag angezündet wurden.
Ich.
Und ganz alleine unter Menschen.
Am Ende flüchtete ich. Der einzige Weg führt in die Welt eines Misanthropen.

Die Dämmerung brach herein.
So ganz natürlich, ganz alltäglich, ganz menschlich.
Als hätte sie sich an unsere Art zu leben gewöhnt.
Wie lange hatten mich meine Füße getragen und nicht gewusst, was mein Kopf denkt.
Wie viel Asphalt hatte schon an dem schalen Gummi meiner Schuhe geklebt.
Als die Dunkelheit über die Welt herein gebrochen war, war ich an der Küste meines Lebens angekommen.
Kennen Sie das nicht? Diesen Gedanken.
Diesen einen Gedanken, dieser Virus der plötzlich alles Denken bestimmt.
Dieser Virus, der alle Synapsen infiziert, jeden noch so kleinen Winkel ihres Daseins vereinnahmt.
Ich stand am Meer.
Die Schuhe hatte ich ausgezogen. Der Asphalt hatte Ebbe.
Und die Flut spürte mir um die Knöchel.
Als die Tränen aus meinen Augen traten musste ich mich fragen, ob sie aus dem selben Stoff waren, wie das Meer.
Denn sie schmeckten genauso. Unendliche Tiefen.
In diesem einen Moment war ich einsam.
So gar nicht natürlich. So gar nicht alltäglich. So gar nicht menschlich, allzu menschlich.
Ich atmete die Einsamkeit und die Einsamkeit atmete mich.
Wer nach dem richtigen Weg fragt, hast nicht verstanden.
Diesen Gedanken. Diesen Virus.
Nun hatte ich die Füße in den Sand gesteckt.
Umgesehen war ich meiner Schwester so ähnlich.
Auch ohne Rollstuhl fühlte ich mich so hilflos.
Zwei Schritte mehr. Zwei Schritte Meer und Sand zwischen meinen Zehen.
Wieder zwei Schritte.
Und wieder.
Bis zu den Knien mitten im Ozean.
Richtige Helden weinen nicht. Oberkörper im kalten Wind.
Die Flut hatte etwas angespült.
Die raue See hatte Verstand.
Und irgendwo zwischen Algen, Wasser und Sand fand ich eine Nachricht.
„Ich kenne diesen Gedanken.“

Nach Luft schnappend wachte ich auf.
Nachmittagssonne im der stillen, kleinen Küche.
Durch die stillen, kleinen Fenster.
Ein Stoff, der sich so ruhig und doch beharrlich über alle Materialien legt.
Das Wasserglas war mir aus der Hand geglitten.
Kalt lief es an meinen Beinen hinunter. Ruhig und beharrlich.
Flüssig und unerbittlich.
Und ich atmete ganz alltäglich, ganz menschlich.
„Kein Wunder, dass ich vom Meer geträumt habe.“ Murmelte ich und stellte das Glas beiseite.
Ein Blick. Ein Blick noch aus dem Fenster, bevor ich meinen Rollstuhl in Bewegung brachte.
(c)

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Montag, 11. November 2013
Vom lethargischen Traum eines Mörders
Vom lethargischen Traum eines Mörders

„Ich habe schlecht geträumt.“
„Du bist bist ja auch nicht gerade ein König.“
Inwart stand am Fenster und drückte seine Zigarette mit einer Geste der Rechtfertigung aus.
Keiner konnte das so perfekt wie er.
„Ich weiß, wie du dich fühlen musst.“
Er stand einfach da, in dem alten Sakko, dass er schon bei unserer ersten Begegnung getragen hatte und versuchte so mein Leben zu beschreiben. Zu relativieren.
Und ich war nicht gewillt das hinzunehmen.
Ich wollte nicht weiterhin dieser Jemand sein. Mit fremden Gefühlen.
„Du weißt nicht wovon ich spreche, hast keine Ahnung. Du hast einen anderen Körper und einen anderen Geist. Wir ähneln uns kein bisschen in unserem Sein, und nichts was ich dir gegenüber fühle ist mehr als Trägheit und Entsetzen.“
Ich nahm mir das Recht heraus zu sprechen. Das verquerte Recht mein eigenes Ich zu sein. In diesem Moment, in diesem Moment des Todes.
Und doch war ich so fern von den Sternen.
_Ich spüre, dass du etwas Besonderes bist._
Hatte Kairo gesagt.
Kairo. Kairo, der mir immer fern und meisterhaft vorgekommen war.
Ganz so, wie eine Figur aus einer Geschichte, die man nicht wirklich kennt.
Aber was heißt kennen schon?
Und so blicke ich Inwart an, mit diesem Blick eines Zweifelnden. Eines Verschmähten.
„Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst.“ Wiederholte ich leise und legte den Kopf schief.
Und dann dachte ich an die Geschehnisse.
Ich dachte daran, wie Kairo mir über den Kopf gestrichen hatte.
Wie man es bei einem Kind tut. Aber so hatte es sich gar nicht angefühlt.
Ich dachte daran, wie Lola gelacht hatte.
Wie sie neben dem großen Geländewagen gestanden hatte und über meine Unzulänglichkeit leichtfertig gelacht hatte.
Und schließlich daran, wie Inwart und ich hierher gekommen waren.
In das große, leere Gebäude abseits der staubigen Stadt.
Der tote Körper Kairos vor meinen Füssen.
„Dabei dachte ich immer, du könntest mich verstehen.“
Ich blickte meine blutverschmierten Hände an.
Wie konnte er nur so ruhig bleiben?
Wie konnte er nur so dastehen, als trotze er einer Naturgewalt.
Ich hasste ihn mit seinen blonden Haaren und der breiten Narbe über der Stirn.
Den Glanz in seinen müden Augen.
Und seine Arroganz, wenn er nicht antwortete.
„Antworte!“ Schrie ich angewidert. „Antworte, denn auch an deinen Händen…“
„Nein.“ Inwart schüttelte den Kopf und lachte leise. „Nein. Kairo war- Kairo ist mein geliebter Feind und nur das Drama der Menschlichkeit hat uns zu Fremden werden lassen. Ich liebe ihn. Aber das wirst du mit einem simplen Gemüt niemals verstehen, niemals.“
Das Blut an meinen Händen begann zu jucken, zu ätzen, zu beißen, als würde sich mein Körper gegen die begangene Tat wehren.
„Ich bin nicht dein Werkzeug! Ich bin nicht dumm oder einfältig, wenn du das annimmst!“
So viel wollte ich ihm ins Gesicht schleudern. So viel der vergangenen Jahre brannte unter meiner Haut.
Und Kairo.
„Versteh doch. Wir sind die Bösen in dieser Geschichte. Also begegne mir nicht mit diesem unbeschreiblichen Stolz. Denn das hier ist erst der Anfang.“
„Ich bin nicht stolz auf meine Taten.“ Knurrte ich. „Aber das möchte ich in Zukunft sein.“
Inwart schüttelte erneut den Kopf, während er sich seine Tasche aufschulterte.
„Die Frage ist nie, wie es hinter der Bühne, hinter dem Vorhang aussieht, sondern was es ist, das dem Zuschauer verborgen bleibt. Offensichtlich und verborgen zwischen den Zeilen. Offensichtlich und verborgen, während die Protagonisten artig ihren Text sprechen und die Nebendarsteller im Schatten stehen. Dort geschieht es. Dort, abseits der Aufmerksamkeit des Publikums geht das eigentliche Drama von statten. Und die Hauptdarsteller können nur daneben stehen und auf das Schicksal hoffen.“
Ich hasste seine Perfektion.
Und als er ging spiegelte sich seine erhabene Miene in dem gebrochenen Glas.
Und das gebrochene Glas spiegelte mich.

Ich bin kein Genie.
Und so saß ich da, auf der Bettkante irgendeines Bettes.
Ich hatte nicht vor zu schlafen und das Hotelzimmer war von Fremdheit bestimmt und verwirrte mich zutiefst.
Und ich empfand ein Gefühl der unendlichen Einsamkeit.
Eine Einsamkeit, die man nur empfindet, wenn einem bewusst wird, dass man nur der Nebendarsteller in einem Stück ist. Seinem eigenen Stück, gleich aber so groß wie die Welt.
Das Licht in dieser Fremde war nicht hell und nicht dunkel.
Es war irgendwie schmutzig und alles in mir hatte sich an dieses dreckige Licht gewöhnt, als sei es ein Teil von mir.
Wieder sah ich Lolas Lachen vor mir und ich entschloss, dass es Zeit war.
Ich musste sie treffen.

Als ich die Treppe des Hotels hinabstieg wurde mir erst klar, zum ersten Mal klar, wie entsetzlich aufregend das Leben war. Nur sah es keiner.
Jeder Mensch schien eine gegebene Blindheit seinem Alltag gegenüber zu bringen und der er als Mittel der gegebenen Routine einfach zu akzeptieren bereit war.
Einfach.
Ein schönes Wort.
Und während ich den Schlüssel bei dem lächelnden Gesicht abgab, sah ich auf meine Hände es schien, als fehle das Blut an ihnen.
Erst dieses schien mir die Fähigkeit gegeben zu haben, Entscheidungen zu fällen – nein – Möglichkeiten zu sehen, die ich zuvor nicht gesehen hatte.
Kairo.
Ja, auch ich liebte ihn.
Und die laue Nachtluft schlug mir entgegen, als hätte sie mir antworten wollen.
Hier war kein Geist des Königs wie bei Shakespeare. Und wenn, würde er mich auch nicht heimsuchen.
Denn wer war der Mörder gewesen, wenn nicht er selbst?

Ich hatte mich mit Lola in an einer Eisenbahnbrücke im Industriegebiet treffen wollen.
Doch sie war anderer Meinung gewesen.
Über das Mobiltelefon hatte ihr Lachen ganz elektronisch gewirkt.
Und ihre Stimme verzerrt und falsch.
Also wartete ich im strömenden Regen auf Lolas Ankunft.
Mitten auf dem weiten Feld konnte ich nichts ausmachen, außer der verwaschenen Ferne in der hereinbrechenden Dunkelheit.
Meine braunen Lederschuhe waren voller Schlamm und die Nässe schien sich durch meine Kleidung zu fressen.
Schwer drückte sie auf meinen Körper und ich musste unwillkürlich daran denken, dass sich so die Last der Jahre anfühlen musste.
Die Last der Jahre und die Last des Sterbens.
Und wieder überkam mich diese Einsamkeit und ich musste dem Drang widerstehen auf die Knie zu sinken und meine Hände anzustarren, als könnten nur sie bezeugen, was geschehen war.
Als könnten nur sie entscheiden.
Der Lärm eines Motorrads weckte mich aus meiner Lethargie.
Dreck spritzte zu allen Seiten und beinahe hätte Lola das motorstarke Biest festgefahren, doch sie kämpfte sich durch die Spurrillen, die der Traktor wohl in das Feld gefahren hatte und blieb vor mir stehen.
Der Motor lief noch, als sie den Helm absetzte.
Das passte zu ihr.
Zu der schönen, klaren Rebellenführerin.
Sind wir nicht heimlich alle ein wenig so wie sie?
Die Haare wild in den Nacken geworfen und die Stimme zu einem Orkan angehoben. Das war Lola.
Ein Gewitter zog auf, doch alles woran ich denken konnte war Kairos toter Körper und meine Hände.
Ohne Lola zu beachten hob ich meine Hände vor mein Gesicht.
Vor meine Augen.
Abwesend beobachtete ich, wie das Wasser über die Vertiefungen rann und empfand diese Einsamkeit.
„Kairo lebt nicht mehr.“
Das war alles, was ich im Angesicht von dem aufkommenden Sturm sagen konnte.
Ehrfürchtig, den Blitzen, die über den weiten Himmel zuckten gegenüber.
Lola stand da.
Vollkommen.
Vollkommen ruhig und berechnend.
So wie in meinem Traum.
„Das interessiert mich nicht.“
In langen Strähnen rann das Wasser über ihre Haare, doch ihr Gesicht war nüchtern.
Trockener, als die ganze Stadt.
„Er hat sich mir in das Messer geworfen.“ Sprudelte es aus mir heraus.
Plötzlich war ich gar nicht mehr Einsam.
Ganz und gar nicht mehr. „Ich wollte ihn töten, aber er, er…“
Der Protagonist.
So kamen mir Inwarts Worte in den Sinn, als ich in Lolas Augen blickte.
Und der Abstand zwischen Blitz und Donner wurde immer kürzer, als sie ihre Stimme erhob.
„Das interessiert mich nicht!“ Voller Hass packte sie mich. „Hörst du! Kairo ist seinen Weg gegangen und das hat er mir prophezeit. Kairo weiß, was er tut. Er ist nicht so ein Narr, wie du, der sich vor den Naturgewalten fürchtet und wie eine Figur aus dem Drama versucht seine Hände rein zu waschen.“
„Aber er ist tot!“ Entgegnete ich. „Was haben ihm jemals seine Prophezeiungen gebracht, wenn er jetzt doch tot ist?“
Lola sah mich durchdringlich an. Mit einem Hauch Mitleid und dem unbekannten Ausdruck in ihren Augen. Dem Ausdruck sich rechtfertigen zu müssen.
„Was ist, lässt sich wohl kaum in Worte fassen. Kairo ist seit jeher gestorben. Tun wir das nicht alle?“ Sie wandte sich ab, dem Himmel entgegen und Feuer stieg in ihre Augen.
„Ich habe ihn gehasst, ich habe ihn gehasst für das was er war. Für seine Gabe den Weg und das Glück zu sehen. Für seine Gabe in dem gehassten Feind den Liebenden zu sehen. Ich habe ihn so sehr gehasst.“ Brachte sie hervor.
Ein Moment der Stille, des brausenden Regens.
„Ich habe ihn gehasst dafür, dass er die Lethargie vor sich getragen hat und das Volk und den Menschen im Unklaren gelassen hat. Ihnen einen Gott gegeben hat und weit mehr als das. Aber heute weiß ich warum und ist damit sein Tod nicht schon gerechtfertigt?“
„Aber Kairo ist kein Gott!“ Schrie ich dem entsetzlichen Sturm entgegen.
Was hatte ich getan.
Was hatte sie getan, wie sie mir so gegenüber stand.
Frech dem Wind und dem fürchterlichen Regen trotzend, der nun auf uns herniederprasselte.
In schweren Atemzügen nahm ich die dunstverhangene Luft in meine Lungen auf.
„Du redest Unsinn!“ Schrie ich erneut.
Ich verstand diese Welt nicht mehr.
Lolas Gesicht war hart und grausam. Nie hätte ich gedacht, dass ich sie so sehen würde.
„Was du denkst und fühlst ist mir gleich. Nicht einmal Inwart-“
Ihre Stimme brach und alles was blieb, was das Donnern und die lauten Blitze, die die Nacht erhellten. Zerrissen.
Die Nacht, die nun endgültig über uns herein gebrochen war.
Nacht und mehr Nacht.
So wie Kairo es prophezeit hatte.
Ich konnte kaum noch atmen, so schwer legte sich die nasse Kleidung auf meine Brust.
So schwer brannten Lolas Worte auf meiner Haut.
Auf meinen Händen.
Wieder hob ich diese vor mein Gesicht um sie im unnatürlichen Licht der zuckenden Blitze ungläubig anzustarren.
„Nein, Lola…“ Flüsterte ich, fiel auf die Knie.
Die nasse Kleidung, die mich erdrückte.
Und die Hände, die schließlich meine Augen bedeckten.
„Nein ,Lola. Du verstehst mich nicht.“ Mein Flüstern schwoll zu dem unheilvollen Donner an und als ich meine Hände auf den schlammüberzogenen Boden gleiten ließ, schaute sie mich erschrocken an.
Erde und Blut.
Und als hätte sie nicht verstanden, als hätte sie tatsächlich nicht verstanden, kam sie einen Schritt näher.
„Mit wem sprichst du?“
Und ihre Augen verloren von dem Feuer.
Der Blick, als wolle sie mich verurteilen, erschrocken und bitter, meines Standes erhaben.
Ich, der nicht wissen kann, der nicht zu verstehen vermochte, was der Sturm ihm entgegen schreit.
„Ich bin nicht so einfältig, wenn du das annimmst.“ Widerholte ich meine Worte.
Die Hände wie ein Blinder im Dreck wühlend.
„Ich bin nicht das, was ihr glaubt! Was Inwart und du glaubt!“
Ich war so entsetzt und Lola lachte nicht. Nein.
Sie sah mich fassungslos an.
Ganz so, wie man ein Kind oder einen Wahnsinnigen ansieht.
Dann schüttelte sie den Kopf und ihre nassen, schwarzen Haare schienen mit dem Wind davonzufliegen.
„Was weißt du denn schon! Was weißt du denn schon von Glück, Erhabenheit und Stärke? Was weißt du denn schon?“
„Stärke“ Ich lachte unangemessen laut und brüllend als wäre ich wahnsinnig geworden.
Ganz so, als könne mich mein innerer Konflikt nicht mehr halten.
Meine inneren Fesseln.
Und das taten sie auch nicht.
Sie zersprangen unter meinen Augen und alles was blieb war die unermessliche Verzweiflung und Einsamkeit. „Lethargie! Erst diese war es, die Kairo eine Stärke vermittelt hast. Das müsstest du doch am besten wissen, LOLA!“
Ich spuckte ihren Namen aus und er spritzte, wie das Regenwasser über dem Boden.
Ergoss sich wie Blut auf dem schlammigen Erdreich.
Untergrund der Welt. Hier.
Jetzt.
Und als Realität in meinen Händen.

Unfähig aufzustehen lag ich auf dem Boden meines Hotelzimmers.
Die Arme von mir gestreckt und die brennende Mittagssonne auf meiner Haut.
Leben.
Das war das Wort, das mir unumstößlich durch den Kopf ging.
Leben und Blut an meinen Händen.
Die laute Stadt unter mir und die Geräusche von der staubigen Straße auf meinen Ohren.
„Steh auf. Wir gehen.“
Inwart war gekommen.
Mit Reiterstiefeln und blonden Haaren.
So ganz abseits von Blut und Kairo.
So ganz abseits von Leben.
„Nein.“ Ich war ganz ruhig.
Und trotz der heißen Sonne fühlte es sich noch immer so an, als würde der kalte Regen auf meine Haut niederprasseln und der Sturm vom Gewitter gepeitscht durch meine Haare fahren.
„Was soll das?“ Inwart gab mir einen Stoß in die Seite und lachte.
„Ich habe Lola getroffen.“
Inwart blieb am Fenster stehen und schwieg.
Wie gestern.
Wie gestern, Kairos toten Körper im Rücken.
Im Nacken.
„Warum solltest du das tun? Ich habe dir doch gesagt, dass die Protagonisten-“
„Wir sind in keinem Drama.“ Schnitt ich ihm ruhig und beherrscht das Wort ab. „Wir sind in keinem Drama und es gibt kein Anfang und kein Ende von dem, von dem, was wir erleben. Nicht einmal der Tod ist ein legitimes Ende, wie Kairo beweist.“
„Jetzt gehst du zu weit.“ Flüsterte Inwart.
„Zu weit…“ Es war mir zu mühselig aufzustehen und so beobachtete ich Inwart auf dem Kopf stehend, an dem Fenster.
Und unwillkürlich musste ich mir vorstellen, wie die Sterne dort standen.
Und die tiefe Dunkelheit der Nacht ersetzte die brennende Hitze des Mittags.
Und eine lindernde Kühle überkam mich.
„Es ist Lethargie.“ Und ich streckte meine Glieder.
Alles in mir wuchs und wurde lebendig.
Lebendig, wirklich und zugleich – lethargisch.
„Was soll das? Was weißt du denn schon von dem, was du da sprichst.“ Inwart war einen Schritt auf mich zugenommen. Doch er machte einen besorgten Eindruck.
Wie ein Vater, der sich um sein Kind sorgte.
Wie ein Vater.
„Ich bin nicht dein Kind.“ Stöhnte ich mühselig. „Ich bin nicht dein Werkzeug.“
Und dann schloss ich mutig die Augen und erinnerte mich an den vergangenen Abend.
An Kairos Gesicht. An meine Hände und an das, was sie taten.

„Inwart.“ Kairo lächelte verhalten. „Immer hatte ich angenommen, dass ich durch deine Hand den Tod erfahren würde.
Durch deine Hand, oder dem Sprung in das tiefe kalte Meer.“
Er blickte aus dem Fenster der Baracke.
Abseits der Stadt. Der staubigen Stadt.
„Ein schöner Ort um zu sterben.“
Ich hatte husten müssen. Der Staub der Stadt war noch in meinen Lungen und alles hatte sich so fern und unwirklich angefühlt.
Niemals zuvor hätte ich es für möglich gehalten Kairo einmal so gegenüber zu stehen.
„Wer bin ich schon, als ein Narr. Ein Diener des Schicksals.“ Hatte er gesagt und sich zu mir gedreht.
„Wer kann mich besser verstehen als du?“
Ich.
Ja, Kairo hatte mich gemeint.
Und er hatte mich ganz Ernst dabei angesehen.
Ganz so, als würde er nicht zweifeln, dass ich es verstehen könnte.
Verstehen. Ging denn alles nur darum?
Er hatte gelacht und mich angesehen.
Ganz so wie Lola.
„Für das Messer hast du dich entschieden, ja? Eine Wunde willst du mir zufügen? Du willst dir anmaßend, mir eine Wunde zufügen zu können, die größer ist, als die, die ich mir selbst zugefügt habe? Die das Leben mir selbst zugefügt hat?“
Seine Stimme war so ruhig und angemessen gewesen.
Abwesend hatte er sich an den Hinterkopf gefasst, als würde er etwas suchen.
Dann hatte er tief durchgeatmet.
„Ich hoffe doch, es wird wehtun.“
Das Messer in meiner Hand hatte gezittert. Damit hatte ich nicht gerechnet gehabt.
Kairo war mir zuvor nicht oft begegnet, doch an diesem Abend. In diesem Moment seines Todes, war ich ihm näher als keinem Menschen zuvor gewesen.
Ich hatte mir die Augen reiben müssen.
_War das ein Traum gewesen?_
Der Wind hatte sich durch die alten Mauern gefressen.
Laut geheult.
Und die Realität war zwischen meinen Fingern zerflossen.
Kairo hatte mich gemeint.
Als Spielball des Schicksals.
Kairo hatte mich gemeint.
Nie hatte man mich gemeint. Nie war ich…
Ein Traum?
Kairo hatte wieder die Stimme angehoben, als er von dem Fenster weggetreten war und diesen letzten einen Blick auf die Stadt geworfen hatte. „Ich hoffe es wird schmerzen. Ich habe nicht gut gelebt. Ich habe nicht richtig gelebt. Aber ich will richtig sterben. Richtig sterben will ich.“
„Du bist ein Komödiant, Kairo.“ Hatte Inwart gesagt.
Er hatte das Gesicht verzogen. „Aber du weißt ja. Niemand ist böse.“
„Ja.“ Kairo hatte mich fokussiert. Mich. „Denn du… Du bist mein liebster Feind.“
Und so hatte er sich mir entgegen in das Messer geworfen.
Heißes Blut auf meinen Händen.
Der Staub der Stadt an meiner Kleidung und Kairos heißer, unnachgiebiger Atem in meinem Gesicht. Als hätte er doch nicht sterben wollen.
„Aber das war kein Traum mein Freund.“ Hatte er zuletzt geflüster und sich unter den Schmerzen gekrümmt.
_Das war kein Traum._

Und nun lag ich da. Zu Inwarts Füßen und erkannte das Recht, was ich hatte.
„Ich.“ Sagte ich entsetzt über die eigene Erkenntnis. „Kairo hatte mich gemeint!“
_Das interessiert mich nicht._
So kamen mir Lolas Worte in den Sinn.
Was Kairo tut hat einen Sinn.
Was er prophezeit ist es, was er ist, er ist-
„Nicht tot.“ Sprach ich es laut aus.
Und aus meinen Lungen entfesselte sich der bittere Drang nach mehr.
Der Orkan brach sich in meiner Stimme, als ich sie zu einem Sturm anhob.
Feuer in meinen Augen, so wie es bei Lola sein musste.
„Siehst du es nicht Inwart! Seine Prophezeiung! Sie lebt. Sie ist es, was abseits des Protagonisten geschieht. Sie ist die Essenz dieses Dramas, dieses Lebens, das kein Anfang und kein Ende hat. Sie ist der sprechende und laufende Kairo. Und wir- wir als Schachfiguren des Schicksals haben nichts anderes getan, als sie mit unserer Geier zu erfüllen.“
Inwarts Lippen wurden schmal.
„Aber es gibt keinen neuen Herrscher! Kairo ist tot!“

Und es herrschte das Schicksal über uns. Viel mächtiger und erhabener als Kairo. Und in seiner Lethargie und in seinem Wissen hatte er seine Macht gefunden und sich dem ergeben, was er war.
Der Macht ergeben, die er war.
Und so stand ich auf dem Dach seines Palastes.
Und über mir die Weite des Sternenhimmel.
Ich.
Ich ganz nah an den Sternen und den staubigen Straßen dieser Stadt.
„Kairo…“
Lolas Stimme war es, die die Laute der nächtlichen Straßen übertönte.
Und meine Hände waren es, die an meinen Hinterkopf fassten.
Kein Blut.
Nur Gedanken.
„Kairo, geht es dir gut?“
Staubige Luft in meinen Lungen und Lethargie in meinem Blick.
Gedanken auf Haut. Haut auf Gedanken.
„Aber Lola. Was für eine Frage.“ Ich drehte mich zu ihr. „Ich bin die starke, leidenschaftliche Empfindung. Zwischen Leben und Tod. Lethargie und Wahnsinn. Nicht Traum. Nicht Wahrheit. _Sondern die Welt in meinem Kopf._“
(c)

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Montag, 4. November 2013
Eine restlose Reise
„Restlos! Warte!“
Restlos hatte bereits den falschen Weg eingeschlagen, nachdem ich ihm durch den Pfad zwischen dem Gestrüpp nachjagte.
Warum musste der Weg auch so steil sein? So steinig?
Dieser Pfad diente als Grenzmarkierung.
Und als ich an dem großen Stein vorbei gelaufen war, wusste ich es.
Und ich blieb stehen.
Der Wald und der nasse, schwere Schnee auf meiner Kleidung.
Erinnerungen und Träume.
Hier endete der Weg.
Hier irgendwo tief im Wald, Bewusstsein oder nicht.
Kampf, Sieg und Niederlage.
Die Grundfeste dieses Weges lösten sich auf und was blieb war eine Verästelung.
„Restlos!“
Wo hin?
Der schmale Kriegspfad zu meiner Rechten führte in endlose Dunkelheit.
In die Tannen und das Unbewusste.
Doch ich roch das Meer weit in der Ferne.
„Restlos!“
Der Linke war noch schmaler und heller.
Etliche Steine besetzten den Weg, überzogen von einer Eisschicht.
Welcher Weg führte zum Ziel?
Wohin ging diese Reise?
Ich entsage der Grenze und dem Krieg.
Ich entsage mich dem Weg und seinen Steinen.
Wer Restlos ist, wer restlos ist, will und kann sich dem entsagen.
Und so stapfe ich, den Kopf, den Kopf voran in das Gestrüpp hinein.
Bis es sich vor und hinter mir schloß und ich in einem ewigen Kraftakt versuchte mich hindurchzuhangeln.
Restlos.

Alle Wege und alle nicht-Wege führen zum Meer.
Auch dieser.
Und so stand ich am Meer, die kühle Brise und die warme Sommersonne auf meinem Gesicht.
Ich lebte diesen Moment.
Die Weite und das Graue des Himmels verschmolzen zu einer Masse, die mich restlos zu umgeben scheint.
„Restlos!“
Der Weg führte ans Ziel, doch das Ziel war nicht das Ziel.
Ziel ist vieles.
Vielerlei Ziele jagen wir, doch nur ein Ziel ist restlos.
Salz in meinen Lungen und Weite in meinen Augen.
Wohin führte diese Reise?
Den Schnee abgeschüttelt, entsagte ich mich der Kälte, dem Schnee-Matsch.
Entsagte mich dem kalten Asphaltsegeln, dem bitteren Streusalz.
Wendete mich dem unerbitterlichen Meersalz zu.
Ein Schritt und die Knöchel waren im Wasser versunken.
Noch ein Schritt und die Naturgewalt spülte den weißen Schaum um meine Waden, meine Schenkel.
„Restlos!“
Konnte ich kaum noch schreien, noch eine Welle und es nahm mir die Sicht.

Eine Asphaltstadt tat sich vor mir auf.
Metall und Glas so sauber aufeinander geschichtet.
Rein un(d)menschlich.
Das Salzwasser tropfte wild über meine Brust, in der ein noch wilderes Herz schlugt.
Der Weg und eine Stadt.
Eine Stadt wie viele Städte.
„Restlos!“ Rief ich, doch alles was widerhallte waren die Echos der Komplexe.
Alles was mir entgegenschlug, wie ein starker Wind, war das wütende Heulen einer niemals schlafenden Bestie.
Er trocknete mich. So gründlich, dass ich zu verdörren drohte.
So gründlich, dass das Meer zurückwich und Salzkristalle-
Starre Kristallsäulen zurück ließ.
Doch ich drehte mich nicht um.
Ich folgte einer Straße und sie folgte mir.
Mit ihren Augen und ihren Blicken.
Das Leben eine einzige Momentaufnahme.
Menschen drängten sich um mich und die Straße war am hellen Vormittag erleuchtet.
Ich wurde verfolgt, doch niemand sah mich.
Die Paradoxie einer Generation, die Paradoxie einer Zeit.
Ich begann zu laufen.
Der Asphalt unter meinen Füßen verschmolz zu einer verwaschenen Symbiose aus Stein und Glas und Metall.
Und plötzlich, so wie sie angefangen hatte, endete die Straße.
Eine Absperrung und eine Warnung, die ich restlos ignorierte.
Restlos.
Und vor mir eröffnete sich die heiße, dunstige Wüste.

Wohin führt diese Reise?
Hier gibt es keinen Weg, keinen nicht-Weg.
Kein Richtig und kein Falsch.
Womöglich kein Anfang und kein Ende, Bewusst und Unbewusst.
Irgendwo dazwischen haderte ich mit meinem Leben.
Restlos mit meinem Leben.
Keine Steine in meinem Weg, keine Wellen im Gesicht, keine Momentaufnahme.
Denn hier ist nichts.
Nur der Sand in meinen Schuhen und die Müdigkeit in meinen Gliedern.
Nur ich mit mir und mit mir das Nichts, das nichts ist, nicht einmal erwähnenswert, wenn es denn nicht das Nichts wäre.
Denn das was fehlt, ist hier plötzlich das was restlos, restlos im Mittelpunkt steht.
Nicht da, doch greifbar wie nie zuvor.
So wanderte ich durch die salzigen Sandstürme.
Nicht mehr und nicht weniger.
Doch weniger.
Denn hier war Restlos zugleich am Nächsten und am Entferntesten.

Die Berge erstreckten sich vor mir.
Meine Reise findet hier ihr Ende, denn ich hoffte auf dem höchsten Berg Restlos zu sehen.
Ihn von dort Oben ausfindig zu machen.
Restlos.
Und so nahm ich meine letzten Kräfte zusammen.
Die steilen Felswände hinauf, den gefährlichen Wind im Haar.
Restlos in meinem Kopf.
Es ist eine Kunst den Weg zu sehen.
Auf den Steilebenen dieser Welt.
Endlich stand ich oben.
Ganz oben, den Höhepunkt meiner Reise.
Den Höhepunkt eines Lebens.
Und ich sah.
„Restlos?“
So weit war ich gelaufen.
So viele Steine und so wenig Mut in den Händen.
Alles was ich sah, die weite Reise hinter mir mit meinem Verstand als Weggefährten, sah ich nur mich.
Restlos mich.
(c)

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