Mittwoch, 7. Oktober 2015
Vierundzwanzig III
Ich musste träumen, als ich über das weiße Gras schwebte.
Die schwarzen Bäume in der Ferne, sie schmückten den Horizont. Ganz verwaschen wie auf einem Bild.
Alle Grenzen lösen sich auf- vielleicht auch nur eine Erinnerung.
Es war Sommer, ein Jahr lang Sommer auf den Feldern und Wiesen am Rande meiner Heimatstadt.
Neben dem alten Brunnen blieb ich stehen, breitete die Arme aus als wollte ich fliegen. Den Wind in meinen Haaren.
Doch als ich spürte, wie ich ganz langsam diese Welt verließ, in die Lüfte hinauftrieb und zu einem Vogel wurde, packte mich eine Macht.
Sie drückte und zog mich hernieder. Nicht in das Gras. In die weite Öffnung des Brunnens.
Tief in die Erde, wo die Lunge des kleinen Vogels kaum noch Sauerstoff bekam und die kleinen Flügelchen zitterten.
Voller Unruhe und Furcht.
Doch es waren nicht jene Augen, die mich erwarteten. Die ich erwartete. Dreiundzwanzig hatte sich in meinen Traum geschlichen. Ich spürte seine Anwesenheit ohne ihn zu sehen oder zu hören.
„Ist es nicht so gewesen?“, eine fremde Stimme in der Finsternis.
Der kleine Vogel in meiner Hand begann zu bluten, es war als würde sein Inneres nach außen gekehrt. Ich wollte wegsehen, doch die Macht hatte mich umschlungen.
„NEIN!“
„Erzähl mir von den Augen“
Der Vogel entzündete sich und unter einem kurzen Flackern ging er in eine helle Flamme auf. Es war ein scheußliches Geräusch, welches das kleine, zierliche Tier in seinem Todeskampf herausschrie.
Dann war es wieder finster.
Doch ich hatte einen Schatten gesehen.
„Erzähl mir von den Augen“, forderte er.
Es war erst ein Murmeln, skurril und langsam formten sich die Worte in meinen Gedanken, bis ich sang, bis ich es herausschrie:
„Blut- Händen. Blut- Blut! Blut an euren Händen, Blut an euren Händen, Blut an euren Händen, Blut an euren Händen“
Ich schloss die Augen und besann mich nur auf mein Mantra.
Als ich sie wieder öffnete, sah ich den Stahl.
Zusammengesunken auf dem Boden war ich eingeschlafen.
„Siebzehn!“, hörte ich eine Stimme den Gang ausfüllen, bis sie bei uns ankamen.
Dreiundzwanzig, Vierundzwanzig, Sechsundzwanzig, Siebenundzwanzig.
„Du hast geträumt“, stellte Dreiundzwanzig leise fest als sie bereits fort waren.
Eine Drohung lag in seinen Worten, tiefer als der Brunnen in den ich gefallen war.
Bis ich an diesen Ort gekommen war, hatte ich mir geschworen nie mehr zu schlafen. Nachdem ich die Müdigkeit als mein Lebenselixier verstanden hatte, war es ganz leicht gewesen. Vollkommen flüssig und ohne Widerstand trieb die Welt an mir vorbei.
Doch es war nicht der Schlaf vor dem ich geflüchtet war.
Dreiundzwanzig.
„Ich schlafe nicht“, antwortete ich umso leiser „ich träume nur“.
Ein Stück Metall fand den Weg in meine Hand. Ein Löffel, den ich vom letzten Abendmahl zurückgehalten hatte.
Gabel und Messer bekamen wir nicht, zu groß schätzte man die Gefahr, dass wir uns damit selbst verletzen würden.
Ich dachte an meinen Traum, als ich Dreiundzwanzigs Worten lauschte.
„Vielleicht sind es keine Träume“
„Unsinn“. Der Stiel des Löffels bohrte sich in meine Handfläche. Meine Stimme war harsch-
Es waren Wochen vergangen in denen ich geschlafen hatte.
Doch ich hatte ihn nicht gesehen.
„Vielleicht..-“
„Unsinn!“, unterbrach ich ihn „Unsinn! UNSINN!“
Ich hörte wie jemand diese Stimme herausschrie, sah, wie meine Hand auf den Stahl und den Stein einschlug, den Löffel verzweifelt als Waffe nutzend gegen mein unnachgiebiges Gefängnis
Doch das war nicht ich! Vierundzwanzig!
Wie in Zeitraffer wurde die Stahltür zu meinem Verließ geöffnet, zu lange hatte ich auf diesen Moment gewartet, der nur ganz anders war als erhofft.
„UNSINN!“, knurrte ich noch immer die Stahlfläche an, als könnte ich Dreiundzwanzig hindurch erreichen, als ich brutal zurückgerissen wurde. Handgelenke und Beine an den Sarg gefesselt in dem ich zu schlafen gewohnt war. Geübt waren die Aufseher in dieser Routine.
Wortlos wurde ich meinen Schreien überlassen.
(c)

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 5. Oktober 2015
Vierundzwanzig II
„Du hast ihn gesehen“
Als die sich Schreie gelegt hatten, war auch ich auf den Boden meines Verließ zusammengesunken. Das schwache, dreckige Licht fiel durch die winzigen Spalten meines Kerkers.
Es musste Dreiundzwanzig sein. Dort wo Stahl in Stein überging, musste er sich an die Wand gelehnt haben, um mit mir zu sprechen.
„Nicht wahr? Du hast ihn gesehen“, wiederholte er.
Nicht lange war es her, da war seine Zelle noch leer gewesen, als gäbe es keinen Insassen, der sie beleben durfte. Erst selten hatte ich seine Stimme gehört.
„Ich weiß nicht, was du meinst“. Meine Worte waren harsch, dennoch robbte ich seiner Stimme entgegen. Zu selten war mein menschlicher Kontakt in diesen Tagen. Zu dicke die Mauern.
„Dein Traum. Du weißt wovon ich spreche!“
Unruhe überkam mich. Die weißen Augen, die mich in dieser Nacht nicht das erste Mal verfolgt hatten, leuchteten in meiner Vorstellung auf.
Ich schwieg.
„Wie ist dein Name?“, es war nur ein Flüstern.
Auch dieser verbotene Frage entgegnete ich mit Schweigen.
Ich versuchte mir eine Vorstellung zu machen, was für eine Person es war zu der dieses Flüstern gehören musste.
Vor allem fragte ich mich, wie seine Augen aussehen mussten.
„Es ist verboten nach dem Namen zu fragen. Vierundzwanzig. Das reicht“, entgegnete ich endlich.
Vielleicht wollte ich, dass er nicht aufhörte zu sprechen. Zu lange waren seine Worte bereits verebbt.
„Wie bist du hergekommen, Vierundzwanzig?“
„Die brennenden Augen haben mich schon vorher verfolgt- bevor ich hierhergebracht wurde“, ich starrte an die gegenüberliegende Zellenwand, die winzigen Lichtflecken beobachtend. „Keine Ahnung wann es angefangen hat. Doch es wurde immer schlimmer. Über die Tage habe ich gelitten und die Nächte war ich wach. Wach. Ich tat alles dafür, um nicht zu schlafen. Weißt du wie es ist Tage, nein, Wochen nicht zu schlafen? Die Wirklichkeit scheint an einem vorbeizufließen, abzulaufen, auszulaufen. Erst schnell und dann immer langsamer. Alle Grenzen lösen sich auf.“
„Erzähl mir von den Augen“
Womöglich hatte ich zu viel gesagt.
„Hast du es gewusst?“ fragte ich, ohne auf ihn einzugehen.
„Was denn?“
„Dass wir in unseren Särgen schlafen. Dass wir jeden Tag unsere Henkersmalzeit genießen dürfen. Dass wir bereits unter der Erde sind. Lebendig begraben“
Dreiundzwanzig schwieg.
„Wie ist dein Name?“, kühner war ich nie gewesen.
„Meine Eltern haben mir keinen gegeben. Ich bin an diesem Ort geboren“.
(c)

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 5. Oktober 2015
Vierundzwanzig I
Es war ein Traum gewesen.
Ich hatte sein Gesicht gesehen.
Im fremden Licht.
Laut, energisch und mit Stärke in der vollen Stimme hatte er auf mich eingeredet.
So eindrucksvoll, dass ich von seinen Worten aufgewacht war, von denen keines mehr in der Luft lag.
„Vierundzwanzig“
Schlag um Schlag gegen meine Zellentüre.
„Vierundzwanzig!“
Mit Nachdruck. Laut, energisch, Schlag um Schlag.
Laute verließen meinen Mund- jeder gut genug, um zu genügen.
„Fünfundzwanzig“
Zu gut kannte ich die Morgenroutine die sich an jeden Traum heftete und einschärfte was wir waren.
„Fünfundzwanzig!“
Zu gut kannte ich die Morgenroutine, doch an jenem Tag –
Die Stahltüren mussten so unnachgiebig sein, um den harten Worten Widerstand entgegen zu setzen. Widerstand und jedes Recht durch Halt und Stärke.
„FÜNFundzwanzig!“
Momente zwischen Stahl und Stein.
„FÜNFUNDZWANZIG!“
Ich schloss die Augen.
Drei Schläge, nein, vier. Aufgeregte Stimmen und Stahl auf Stahl, die Sprache der Aufseher.
„Fünfundzwanzig, geben Sie keine Antwort, müssen wir hereinkommen“
Totenstille.
Es war doch nur geträumt-
Sein Gesicht hatte ich gesehen. Ganz weiß war es gewesen, vom Leben entleert.
„Fünfundzwanzig, kooperieren Sie nicht, wird unverzüglich der Wärter gerufen!“
„Nein!“ Es war Zweiundzwanzig. Zwei Zellen zu meiner Linken.
Laut und kratzig erkannte ich seine Stimme.
„Nicht der Wärter! Fünfundzwanzig! Sag es Ihnen! Fünfundzwanzig! Fünfundzwanzig! Fünfundzwanzig! Fünfundzwanzig-“ Die Worte brachen ab. Oder wurden sie nur zu Geflüster?
Ein leises Wimmern.
Kein Wort meines Traumes war mir erhalten geblieben, als sie die Zellentür neben mir öffneten. Sie waren meinem Verstand einfach entglitten. Doch die glühenden Augen sprachen noch immer zu mir, wenn ich die Augen schloss.
Kein Wort.
Zweiundzwanzig war still geworden. Flüstern der Mitheftlinge huschte wie ungreifbare Geisterwesen über die Flure. Doch die meisten schwiegen über die schweren Schritte der Aufseher hinweg.
Durchbrochen durch das erneute Aufspringen der Zellentür machten die neuen Geräusche Platz für Gewalt und -
Neugierig spähte ich durch die winzigen Löcher meiner Türe.
Ich wusste es, doch ich hatte es noch nicht glauben wollen.
Ich sah es, doch ich konnte es nicht fassen.
Als ich einst noch eine andere Zelle belebt hatte, erzählte man mir, dass die Schlafpritschen unsere Särge seien.
Immer bereit zum Abtransport.
Ohne Bestattung und Andenken. Keiner wusste, was mit den Toten geschah.
Das hatte ich für ein bitteres Märchen des Wärters gehalten. Gelacht hatte ich, Vierundzwanzig.
Dass unsere Schlafpritschen Särge seien. Die Gewissheit bekam ich bei dem Anblick der sich mir bot.
Der Totentransport.
Zwei Schritte zurück. Mit Händen und Rücken an die glatte, kalte Wandfläche.
Zweiundzwanzig jaulte auf, als sie seinen Sterberaum passierten.
Weitere Stimmen gesellten sich dazu.
„Mörder!“
„Ihr lasst uns hier verrecken wie Tiere!“
Unbekannt und ohne Namen.
„Fünfundzwanzig!“
„Tiere, Tiere! Und Blut an euren Lefzen!“
Nicht alle Stimmen konnte ich zuordnen. Hallend warfen die Gänge sie zurück, dass sie mehrfach verzerrt in mein Verließ drangen.
„Blut an euren Händen!“
„Blut an euren Händen!“
Was zunächst als wildes, unkontrolliertes Geschrei begann, kanalisierte sich zunehmend in einem skurrilen Singsang.
Von dem Stahl der tausend Türen zurückgeworfen, versetzte er jeden Winkel des Gefängnisses in diese unheimliche Stimmung.
„Blut an euren Händen, Blut an euren Händen, Blut an euren Händen …“
Ich schloss erneut die Augen, als hätte ich eine andere Möglichkeit gehabt.
Konnte ich doch nur hören, nicht sehen.
Die ersten Schreie durchbrachen die leidenschaftlichen Gesänge.
Markerschütternde Schreie, die schließlich alles fraßen. Jeden Ton und jede Überzeugung.
Zu lange war ich Vierundzwanzig. Zu lange war ich wach gewesen.
Noch immer die Hände und Rücken an der eisigen Wand.
Kälte die mich von innen heraus wärmte.
Ich musste an meinen Traum denken.
Sie hatten den Wächter gerufen.
(c)

... link (0 Kommentare)   ... comment