Sonntag, 20. Januar 2013
Hesse und der Wald
Ein unangenehmes Gefühl kriecht Hesse den Rücken herauf.
Er dreht sich um und findet sich einer großen Buche gegenüber.
Sein Atem geht stockend.
Eine Uniform, dreckig und Zerrissen auf dem Waldboden.
Mit einer Hand betastet er vorsichtig die harte Rinde.
Leben, Haut an Rinde. Rinde an Haut.
„Hesse!“
Jemand packt ihn gewaltsam an der Schulter.
Reißt ihm davon.
Der Oberst.
„Was habe ich für einen Befehl gegeben?“
Er schaut streng auf Hesse herab.
Hesse macht ein gleichgültiges Gesicht und starrt stur in den Wald, während er eine Antwort formuliert.
„Den Gefangenen suchen und eliminieren. Herr Oberst.“
„Und warum stehen sie herum und halten Maulaffenpfeil?“
Hesse beißt die Zähne zusammen. Antwortet nicht.
Kühler Wind streicht durch die Bäume und der Laut der ersten schweren Regentropfen auf dem Laub der Bäume erfüllt den Wald.
„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Antworten Sie, oder ich sehe das als Befehlsverweigerung.“
„Ich habe ein ausgehobenes Grab entdeckt, Herr Oberst.“
„Was?“
Das Rauschen des einsetzenden Regens mischt sich in seine bissige Frage.
„Dort.“ Er weist auf das dunkle Loch neben der Buche.
Stille.
Hesse befühlt einen der Regentropfen, der über seine Stirn läuft.
Ein vertrauter Geruch tritt ihm in die Nase.
Der Geruch von nassem Lehm.
„Sie gehen weiter.“
Die Stimme des Obersts klingt kratzig.
„Haben Sie verstanden?“ Bellt er.
Hesse wendet den Blick ab, spürt, wie die Nässe sein Gesicht benetzt.
Wie die Kälte alles lähmt.
„Jawohl, Herr Oberst.“
Der weiche, federnde Waldboden unter seinen Füßen.
Die nassen, schweren Äste, die ihn aufhalten.
Zeit vergeht.
Hesse bleibt stehen. Sein Atem geht schnell und übertönt den Regen.
In seiner Nähe fließt ein Bach.
Von dem Regen unruhig und aufgepeitscht.
Keine Buchen mehr.
Ein Geräusch.
Hesse läuft weiter, das Phantom jagend.
Vor einer Lichtung kommt er zum Stehen.
Sieht die Gestalt.
Die Gestalt mit nassen Haaren und einem Leichenhemd.
Klebend.
Klebend von dem steten Regenstrom.
Hesse nimmt die Waffe zur Hand, doch ein furchtbarer Laut lässt ihn innehalten.
Ein Schrei durchfährt den Wald.
Hesse zielt.
Die Gestalt zittert und richtet sich auf.
„ICH BIN KEIN WOLF! ICH BIN KEIN GOTT!
ICH BIN NICHT FREI! ICH LIEGE NICHT IN KETTEN!
ICH HABE KEINE VERNUNFT! ICH HABE KEINEN TRIEB!“
Die Waffe fällt Hesse aus der Hand.
Der Wald.
Der Regen.
Die Bäume.
Der Oberst am ausgehobenen Grab.
Der Waldboden in Nahaufnahme.
Dann-
schnelle verwischte Bilder.
Hesse beginnt zu verstehen- wischt sich die nasse Substanz von der kalten Haut.
Reißt sich die nassen, drückenden Kleider vom Leib.
Nackt und wie ein neugeborenes legt er sich nieder.
Kein Weg aus diesem Wald.
Kein Weg.
Kein Weg, den Hesse beschreiten kann.
Er nimmt ein Stück Holz und beginnt zu graben.
Neben ihm eine große Buche.
(c)

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