Samstag, 2. März 2013
Das Spiegelbild Kairos
Kairo zerbrach den Spiegel.
Gedanken rannen über seinen Unterarm.
Fasziniert beobachtete er das Schauspiel.
Das Licht brach tausendfach.
Tausendfache Röte.
Auf tausendfach brauner Haut.
Ein Gedankenspiel.
Schnell atmende, gebeugte Leiber.
„Herr.“
Kairo ließ den Arm sinken.
Nickte.
„Die Rebellenführerin. Sie hat sich öffentlich zu ihren Taten bekannt. Wir haben sie gefangen genommen. Ihr müsst ihr den Prozess machen.“
Kairo schwieg.
Doch seine Brust brannte tausendfach.
Lola.
Lola den Prozess machen.
Tausendfach.
„Herr, ihr blutet.“
In Gedanken versunken hob Kairo den Arm.
„Morgen.“
„Ja.“

„Kairo.“
Lola in Ketten.
Stolz und erhaben.
Kairo musste den Blick abwenden.
Ein Blick auf die ungeschliffenen, gelblichen Steine.
Er war es.
Er war es, der in Ketten lag.
Schwach und gebrochen.
Kairo betrachtete das kalte Metall der Ketten.
Er sollte diese Last tragen.
„Wie ernst ist es dir?“
Vollkommen und aufrecht stand sie da.
Voller Dreck.
Voller Dreck und Leben.
„Ich habe es nicht erwartet, ich habe es nicht kommen sehen..“
Er schwieg.
Fasste sich an die Stirn.
Dahinter die pochenden, drängenden Gedanken.
So leblos und klein.
In Gegenwart von Größe.
„Was wirst du tun?“
Kairo entwaffnet.
Fade, flache Gesichter sahen ihn an.
Ihn.
Kairo.
Er schüttelte den Kopf.
Senkte sein Haupt.
„Was weißt du über das Schicksal?“
Atmen schmerzte ihm.
„Und was weißt du über die Freiheit?“
Tausendfaches Leben in Lolas Stimme.
Tausendfach
Jedes Einsaugen der staubigen Luft
Ein viel zu bekannter Schmerz.
Für einen Augenblick setzte er aus.
Das Klingen seines Herzschlages im Takt seiner Gedanken.
Tiefe Empfindungen unter seiner Haut.
So leidenschaftlich der tausendfache Schmerz.
Eine Melodie
Bei Nacht
Im tiefen Meer.
Worte verließen Kairos Mund.
Worte.
Dem Wert eines Lebens.

Der Scharfrichter trat vor.
Ein weißes Leinentuch wurde auf dem Boden ausgebreitet, um Wohlwollen, Reinheit und Frieden zu symbolisieren.
_Töricht._ Dachte sich Kairo.
Wieder ein Anfall wilder Stimmen in seinem Schädel.
Der Wunsch -
All dieser Falschheit ein Ende zu bereiten.
Augen zu öffnen.
Feuer in seiner Brust.
Hass und Verachtung in seinen Adern.
Ein dumpfer Schlag.
Kontrastreiche Röte auf dem weißen Leinen.
„Kairo!“
Der aufgebrachte Mob wurde still, bis keine Regung mehr wahrzunehmen war.
Kairo,
der seinen Blick kaum abwenden konnte – nicht aus Entsetzen, sondern unterdrückter Entschlossenheit – brachte mühevoll die erlernten, geschluckten Worte hervor.
„Der Wahrheit wurde genüge getan. Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Wir haben unserem Gott gedient.“
Die Worte, widerwillig aber kraftvoll ausgespien, wandte er sich ab.
Weg von der Masse, die nach Aufmerksamkeit ihres Herrschers gierte.



Kairo war sich nicht sicher, was er gesehen hatte.
Er wusste nur, dass er fort musste.
Weit weg.
Leidenschaft und Mut kämpften in seiner Brust.
Es hatte eine schneidende Endgültigkeit.
Dort fand er sich wieder.
Auf dem Dach seines Palastes.
Zusammengesunken.
Den Kopf so weit geneigt, dass ihm sein eigener Atem entgegenschlug.
In seiner Hand einen Stein.
Ein Stein voller Gedanken.
Doch dieser Schmerz in seinem Schädel.
Dieses Pochen seiner Unfähigkeit.
_Sie kommen._
Kairo war sich ganz sicher.
Doch er hatte jedermann verloren.
Also bäumte er sich auf.
Die Arme ausgebreitet.
Die lehmbefleckte Kleidung spannte sich quälend über seine Brust.
Den Kopf, voller Empfindungen in den Nacken gelegt
Einen Schrei ausstoßend.
Der Kairo.
Der sanfte, gutmütige Kairo.
Im Spiegel das Bild seiner Selbst erfahren.
(c)

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