Samstag, 8. März 2014
Bis zu den Knien im Ozean: Helden weinen nicht
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er dich vermisst hat!“
Ina hatte ihren Rollstuhl direkt an das Fenster gefahren, dass sie den spielenden Jungen im Garten beobachten konnte.
„Es ist so gut, dass du wieder da bist.“
„Ich kann nicht lange bleiben.“ Gequält drückte ich mich an die Spülen der kleinen, aber exquisiten Küche.
Ganz sauber und ordentlich sah sie aus.
Ganz wohnlich und normal. Wie flüssige Menschlichkeit. Flüssiger Alltag aus dem Wasserhahn, in den Gläsern, Tassen und Schüsseln.
Meine Finger verkrampften sich an der harten Kante, als sich Ina zu mir wandte.
Ihr rosige Gesicht schien nicht bemerkt zu haben, welche Qualen ihr Geist und ihr Körper erleiden mussten. Unser Geist, unser Körper. Meine Zwillingsschwester hatte sich nie so chauffiert wie ich, auch wenn sie es so viel schwerer getroffen hatte.
Ihr Blick fiel an mir herab, wie an einem alten Gegenstand.
Kopfschütteln drehte sie sich wieder dem Fenster zu. „Du bist keine gute Schwester.“
Fingernägel, Lieder aus der Kindheit, ganz in greifbarer Nähe ein Schatten, der über mich hinweg flog. Doch die kalte raue Oberfläche blieb an meinen Fingern kleben.
Die kleine Küche meiner Schwester. Und ich zwischen Alltag und Wassergläsern.
Deshalb konnte ich nicht hier bleiben.
Speisestärke und Bindemittel. Irgendwo in diesen Schränken, hinter verschlossenen Türen, an heimlichen Orten.
Keiner wusste es, keiner ahnte es.
Ich war nichtig für diese Welt geworden.
Irgendwo in mir spürte ich ein Verlangen.
Schon immer hatte nicht es aufgeben wollen.
Blinder Fleck auf dem Tischtuch, neben der Gabel, der Forke, dem Dolch in den Rücken gestoßen.
Das war ich meiner Schwester nicht schuldig.
Schweigend verließ ich das Zimmer.
Kein Blick, kein Blick zurück.
Kein Blick, kein Anblick.
Dieses Leben fürchtete – mich.
Auf der Straße weinten die falschen Helden.
Inas Wohnviertel war ganz normal.
Ganz bürgerlich und eingerichtet. Ganz menschlich, ganz alltäglich.
Ganz schön, zwischen Kant und Kandis. Morgenzeitung und Mittagsschlaf.
Dort, wo die Laternen schon am Vormittag angezündet wurden.
Ich.
Und ganz alleine unter Menschen.
Am Ende flüchtete ich. Der einzige Weg führt in die Welt eines Misanthropen.

Die Dämmerung brach herein.
So ganz natürlich, ganz alltäglich, ganz menschlich.
Als hätte sie sich an unsere Art zu leben gewöhnt.
Wie lange hatten mich meine Füße getragen und nicht gewusst, was mein Kopf denkt.
Wie viel Asphalt hatte schon an dem schalen Gummi meiner Schuhe geklebt.
Als die Dunkelheit über die Welt herein gebrochen war, war ich an der Küste meines Lebens angekommen.
Kennen Sie das nicht? Diesen Gedanken.
Diesen einen Gedanken, dieser Virus der plötzlich alles Denken bestimmt.
Dieser Virus, der alle Synapsen infiziert, jeden noch so kleinen Winkel ihres Daseins vereinnahmt.
Ich stand am Meer.
Die Schuhe hatte ich ausgezogen. Der Asphalt hatte Ebbe.
Und die Flut spürte mir um die Knöchel.
Als die Tränen aus meinen Augen traten musste ich mich fragen, ob sie aus dem selben Stoff waren, wie das Meer.
Denn sie schmeckten genauso. Unendliche Tiefen.
In diesem einen Moment war ich einsam.
So gar nicht natürlich. So gar nicht alltäglich. So gar nicht menschlich, allzu menschlich.
Ich atmete die Einsamkeit und die Einsamkeit atmete mich.
Wer nach dem richtigen Weg fragt, hast nicht verstanden.
Diesen Gedanken. Diesen Virus.
Nun hatte ich die Füße in den Sand gesteckt.
Umgesehen war ich meiner Schwester so ähnlich.
Auch ohne Rollstuhl fühlte ich mich so hilflos.
Zwei Schritte mehr. Zwei Schritte Meer und Sand zwischen meinen Zehen.
Wieder zwei Schritte.
Und wieder.
Bis zu den Knien mitten im Ozean.
Richtige Helden weinen nicht. Oberkörper im kalten Wind.
Die Flut hatte etwas angespült.
Die raue See hatte Verstand.
Und irgendwo zwischen Algen, Wasser und Sand fand ich eine Nachricht.
„Ich kenne diesen Gedanken.“

Nach Luft schnappend wachte ich auf.
Nachmittagssonne im der stillen, kleinen Küche.
Durch die stillen, kleinen Fenster.
Ein Stoff, der sich so ruhig und doch beharrlich über alle Materialien legt.
Das Wasserglas war mir aus der Hand geglitten.
Kalt lief es an meinen Beinen hinunter. Ruhig und beharrlich.
Flüssig und unerbittlich.
Und ich atmete ganz alltäglich, ganz menschlich.
„Kein Wunder, dass ich vom Meer geträumt habe.“ Murmelte ich und stellte das Glas beiseite.
Ein Blick. Ein Blick noch aus dem Fenster, bevor ich meinen Rollstuhl in Bewegung brachte.
(c)

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