Sonntag, 15. Juni 2014
Dantons Tod in tausend Schritten
Und dann sitzt man da.
Keine Ahnung, was mich dazu gebracht hatte Danton zu glauben.
Aber die Morgenröte schien mir recht zu geben.
Der See lag ruhig vor mir. Ganz so, als hätte er auch geschlafen.
Tief und fest wie der ganze Wald, die ganze Welt um mich herum.
Nur ich war wach geblieben.
Die Aufmerksamkeit auf die Baumwipfel in der Ferne gerichtet. Dort wo irgendwo die Wahrheit anfängt und gleichsam in den Himmel übergehen musste.
Irgendwo dort, wo wir alle nicht mehr wussten, was wirklich war und was nicht.
Dort lag mein Geburtsort.
Ein kleiner Bauernhof mit einer eigentümliche gebauten Kapelle.
Ganz so, als hätte die Zeit sie vergessen und über sie die Zeit vergessen.
Aber nun war wie ganz weit fort. Tiefen des Waldes. Weiten des Feldes.
Tausend Schritten von deiner Wirklichkeit entfernt.
Tausend Schritten von hier.
Danton hatte mich am Abend hier zurückgelassen. Mit vollen Worten und reichen Sätzen hatte er mich beglückwünscht.
Ich sei der neue Prinz einer neuen Zeit, einer neuen Welt.
Wie schwarz konnte sein Humor noch sein.
Der Narr einer neuen Welt.
Neuen Welt?
Lachend schüttelte ich den Kopf, als ich zu den schwindenden Sternenbildern hinaufsah.
Wach geblieben.
Umsonst.
Danton hatte mich für einen Narren halten wollen. Mit heimeligen Geschichten von der alten Kapelle hatte er mich locken wollen.
Von meiner Mutter und den Heiligenbildchen.
Irgendwo zwischen Erinnerung und Wirklichkeit. Dort hatte er gekonnt sein Instrumentarium ansetzen können.
Und alles woran ich denken konnte, als die letzten Sterne verblassen, war das Sterbebett meiner Mutter.
Von der Zeit vergessen.
Ich bemerkte die laute Detonation erst, als die Vögel kreischend und aufgescheucht die Baumwipfel am Horizont verließen.
Sofort war ich auf den Beinen.
Wach geblieben auf den Beinen. Rauchschwaden am Horizont.
Danton!
Das laute Grollen erfüllte noch den See und weckte seine Bewohner, als ich bereits loslaufen wollte doch-
„Du bist so ein Narr.“
„Danton“ er stand direkt hinter mir, doch ich wagte mich nicht ihn anzusehen.
Er hatte nicht gelogen.
Diesmal nicht.
Rauch auf dem stillen Wasser des Sees.
„Ich habe mein Versprechen gehalten!“
„Versprechen?“ Ich musste keuchen. Mein Geburtsort, die Heiligenbildchen, die kleine Kapelle. Nur tausend Schritten entfernt lagen meine Lügen in Schutt-
„Die neue Welt. Der Prinz der neuen Welt… Erinnerst du dich denn nicht?“
Blinde Wut kochte in mir auf.
„DU!“ Schrie ich. Der Walde gab mir hallend recht. „Du hast sie getötet!“
Mit einem Satz war ich bei ihm. Rang um seine Kehler und er nach Luft.
„Wer hat dir das Recht gegeben? Bin ich so ein Narr für dich?“
Versprechen, schwindende Sterne. Wer wusste denn schon um die Wirklichkeit? Hätte –
Hätte er nicht –
Ein unbändiger Schrei erfüllte diesen Moment. Von hier bis zu tausend Schritten.
Mein Schrei.
Dabei hätte Danton es sein sollen. Danton hätte es sein sollen, der schrie.
Mein Schrei zwischen Wirklichkeit und Jetzt. Wer wusste schon, was die Zeit wirklich vergessen hat- so ist sie doch auch nur menschlich.
Wir sanken zu Boden.
Irgendwann hörte Danton auf zu japsen. So erbärmlich. Und irgendwann hörte ich auf zu schreien. So jämmerlich.
Ich war wach geblieben. Die ganze Nacht.
Das war der Preis.
Doch erst als die Morgensonne auf Dantons starre Augen fiel, verstand ich.
Seine starren Augen und meine die ganze Nacht wach.
Der bleibende Geruch von Rauch, von Tränen und Wirklichkeit.
Das trübe Gefühl im Bewusstsein.
Ich lebte.
Tausend Schritten waren nichts für den Prinzen einer neuen Welt.

(c)

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