Donnerstag, 26. Februar 2015
Der Wald, der König, der Mensch
- Prolog -
„Was ist der Mensch? Eine elementare Frage, die sich unseren Erkenntnissen entzieht. Zu schwierig scheint es zu sein, die artifizielle Kultivierung unserer Spezies scheint untrennbar von ihrem Wesen zu sein und jede Antwort auf diese Frage zu verhöhnen. Was ist der Mensch? Eine Frage, die über das richtet, was wir als schützenswert, gerecht und richtig erachten. Eine Frage, die zu dem Erfolg führen kann alles klarer zu strukturieren, Grenzen zu ziehen, sich und seine Umwelt im richtigen Bezug zueinander zu erkennen.“

- Der Mensch -

Ich bin der Mensch. Ich. Der Mensch.
Jeder Gedanke dreht sich darum. Jeden Tag oder jede Nacht, Morgen oder Abend.
Wenn es denn überhaupt Tag und Nacht, Morgen und Abend noch gibt.
Ich, mein eigener Zellengenosse und ich.
Bist Du gekommen, um zu sehen, was ich bin?
Was ich bin? Eingesperrt.
In Ketten.
Unter meiner eigenen Brust und in meinem eigenen Herzen.
Meine Hände über die Furchen in den kalten Betonplatten. Ich kenne jede.
Jede Einzelne.
Heute spiele ich ein neues Stück.
Wie Musik gleiten meine Finger über die Kanten und Ecken, die feinen Spuren und Rillen und ich frage mich, welcher dieser Elemente schon einmal die Freiheit gesehen hatte.
Wie sich die Blätter im Wind wiegen und alles Lebendige umherirrt, so tasten meine Finger über das leblose Nichts.
Mein Zellennachbar- ich genieße die Laute.
Ob heute die Sonne scheint? Ob heute Tag war oder Nacht oder beides?
Kein Licht an diesem Ort.
Nur oben und unten.
Ich bin der Mensch. Lebendig in allem Leblosen.
So lauschen wir vor uns hin, bis das Spiel laut unterbrochen wird.
Kreischendes Metall, viele Augen und viele Worte, die mein Spiel zu verhöhnen wissen.
„Subjekt im Wachzustand. Wir können beginnen.“
Langsam löse ich die Finger von den Saiten meines Gefängnisses.
Langsam richte ich mich auf.
Heute spiele ich ein neues Stück.
Auge um Auge, doch Stahl, Leblosigkeit und Gier trennen uns voneinander.
Es gibt keine Worte zwischen uns.
Gab es nie.
So steht mir K gegenüber. Gegenüber eine Unendlichkeit der Gefangenschaft.

Vielleicht träume ich das nur.
Als ich aufwache- die Baumwipfel über mir.
Entsetzlich hohe Gitter,
Brutal werde ich auf die schwachen Beine gezogen.
K blickt den mächtigen Baum empor, als könnten seine Augen mehr sehen als sein Geist verstehen.
Meine Füße schmerzen und die blassen Erinnerungen rauben mir die Sicht.
Mein Brustkorb schmerzt unter der Last sich selbst zu halten.
„Sieh dich nicht um!“, grobe Hände packen meinen Kopf.
Trübe die Sonnenstrahlen, gesenkt das Haupt.
Gesenkt die Stimme, als mir K auf eine Frage antwortet, die ich ihm vor Jahren gestellt hatte.
„Ich weiß, wer du bist“, harte Worte in den leeren Wald. Hart wie die Hände, die mich gepackt halten. „Ich weiß, weil ich bin der, der wissen muss. Mit Verstand und Vernunft. Du bist Last- und Lastlos. Ganz vollkommen und einsam in deinem Treiben.“
Ich möchte sprechen, möchte K die Worte ins Gesicht spucken doch meine ungenutzte Stimme versagt.
Als sei er voller Erde- mein Mund.
Vielleicht hatte der Wald Mitleid mit mir.
Die Stimmen der rauschenden Blätter und das stetige Irren aller lebenden Dinge antworten für mich.
Antworten den Ketten, antworten K.
Sieh dich nicht um.
Wolken ziehen auf.
Die untragbare Last formiert sich zu tiefer Kraft in meinen Muskeln, meiner Seele, meinem Geist.
Heute spiele ich ein neues Stück.

- Hesse -

Ein unangenehmes Gefühl kriecht Hesse den Rücken herauf.
Er dreht sich um und findet sich einer großen Buche gegenüber.
Sein Atem geht stockend.
Eine Uniform, dreckig und zerrissen auf dem Waldboden.
Mit einer Hand betastet er vorsichtig die harte Rinde.
Leben, Haut an Rinde. Rinde an Haut.
„Hesse!“ Jemand packt ihn gewaltsam an der Schulter.
Reißt ihn davon.
K. Der Oberst.
„Was habe ich für einen Befehl gegeben?“
Er schaut streng auf Hesse herab.
Hesse macht ein gleichgültiges Gesicht und starrt stur in den Wald, während er eine Antwort formuliert.
„Den Gefangenen suchen und eliminieren, Herr Oberst.“
„Und warum stehen sie herum und halten Maulaffenpfeil?“
Hesse beißt die Zähne zusammen. Antwortet nicht.
Kühler Wind streicht durch die Bäume und der Laut der ersten schweren Regentropfen auf dem Laub der Bäume erfüllt den Wald.
„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Antworten Sie, oder ich sehe das als Befehlsverweigerung.“
„Ich habe ein ausgehobenes Grab entdeckt, Herr Oberst.“
„Was?“
Das Rauschen des einsetzenden Regens mischt sich in seine bissige Frage.
„Dort.“ Er weist auf das dunkle Loch neben der Buche.
Stille.
Hesse befühlt einen der Regentropfen, der über seine Stirn läuft.
Ein vertrauter Geruch tritt ihm in die Nase.
Der Geruch von nassem Lehm.
„Sie gehen weiter.“
Die Stimme des Obersts klingt kratzig.
„Haben Sie verstanden?“, bellt er.
Hesse wendet den Blick ab, spürt, wie die Nässe sein Gesicht benetzt.
Wie die Kälte alles lähmt.
„Jawohl, Herr Oberst.“
Der weiche, federnde Waldboden unter seinen Füßen.
Die nassen, schweren Äste, die ihn aufhalten.
Zeit vergeht.
Hesse bleibt stehen. Sein Atem geht schnell und übertönt den Regen.
In seiner Nähe fließt ein Bach.
Von dem Regen unruhig und aufgepeitscht.
Keine Buchen mehr.
Ein Geräusch.
Hesse läuft weiter, das Phantom jagend.

- Der Mensch -

Ich spürte den steten Strom des Regens auf mich niederrauschen. Die Nässe hatte keinen trockenen Flecken ausgelassen. Mein Körper und der Wald waren durchtränkt von diesem Stoff.
Ich renne, bemüht den Hindernissen auszuweichen.
Sie jagen mich.
Jagen den Menschen.
Ein ausgehobenes Loch in dem dunklen Waldboden, an dem ich kurz innehalte.
Hier hatte ich noch vor wenigen Stunden mit den Größen meiner Zeit gestanden, die Sonne hatte geschienen – ich laufe weiter.
Wo war das Ende dieses Waldes?
Wo ist mein Ende?
Ein Blick zum Himmel zeigt mir, dass die Baumwipfel die Sicht auf die fernen Wolken verstellten.
Ich stolpere über einen Ast und bliebe einen Augenblick am Boden liegen.
Mein schneller Atem formt kleine Wölkchen.
Ich höre mein Herz laut und schnell pochen- dann die anderen Geräusche des Waldes, des Regens, der mit unverminderter Härte auf mein Bewusstsein einhämmert.
Langsam rappele ich mich auf. Bemüht nicht zu zittern.
Nässe. Und noch immer kleine Wölkchen vor meinem Gesicht.
Ein Schrei ringt sich aus meiner Kehle. Erst animalisch und wild, bist ich es schaffe mich zu artikulieren:
„ICH BIN KEIN WOLF! ICH BIN KEIN GOTT!
ICH BIN NICHT FREI! ICH LIEGE NICHT IN KETTEN!
ICH HABE KEINE VERNUNFT! ICH HABE KEINEN TRIEB!“
Schreie ich den dunklen Wald an. Mein Atem geht schwer und meine nassen Kleider drücken auf meine Brust.
Doch die Worte werden von der Dunkelheit verschluckt und von den Lauten des nassen Waldes überlagert.
Kein Ausweg aus diesem Wald. Der Blick auf die Wolkendecke versperrt. Die Bäume stillschweigend mich beobachteten, wie ich mit mir selbst in meiner nassen Haut ringe.






- K -

K. vor dem ausgehobenen Grab.
„Verdammt, was-?“
Was war hier los?
Das Wasser rinnt die frisch ausgehobene Erde hinab.
Tiefer.
Doch K. vermag es nicht bis zum Grund zu sehen.
Überhaupt scheinen seine Sinne getrübt zu sein, als würde jeder Regentropfen seinen Verstand betäuben.
Vorsichtig nähert er sich, beugt sich zu der Aushebung vor der großen Buche.
Der aufgeweichte Boden droht unter ihm nachzugeben und K kann sich nur noch mühevoll davor retten, mit in die Tiefe gezogen zu werden.
„Oberst?“
„Ja“, bellt er, richtet sich auf. Noch einen Blick in das dunkle Grab.
„Wir haben ihn“, artig salutiert der Gefreite.
Verzweifelt versucht K sich zu erinnern, doch seine Gedanken kreisten um das seltsame Loch im Boden.
„Ja, bringt ihn- bringt ihn her“
Der Regen nimmt zu, doch kein Luftzug über die starren Äste.
Wie ist K hergekommen?
Vielleicht träumt er das nur?
Hektisch streicht er sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Seine Hände voller Erde und-
„Hier ist er!“
Ein Körper wird vor Ks Füße geworfen.
Er kennt ihn.
K in dem regennassen Wald am Fuße der Buche.
Er kennt ihn.
Das Bündel vor seinen Füßen.
Seinen eigenen Körper.
„Nein-“, keine Vernunft mehr in seiner Stimme.
Entsetzt tritt er einen Schritt zurück, als der dreckige, zusammengekauerte Mensch auf dem durchtränkten Boden auf entsetzliche Weise die bleichen Arme und Beine bewegt, als hätte er die Kontrolle darüber verloren.
Arme und Beine.
So liegt Oberst K, zu seinen eigenen Füßen, die Uniform zerrissen. In einer morbiden Umarmung mit dem Waldboden.
Ks Atem beschleunigt sich.
„Oberst?“ Der salutierende Soldat senkt seine Hand und blickt irritiert zu dem richtigen K. Dem richtigen K? „Ich erwarte Ihre Befehle“
Der K auf dem Boden beginnt zu zucken, bis Laute und abgestorbene Blätter aus seinem Mund hervortreten.
Hilfesuchend blickt sich K um, doch hinter ihm ist nur die große Buche. Die Buche und das ausgehobene Grab.
Er erkennt die Laute, die aus dem Mund des anderen kommen, es ist ein Lachen.
Ein tief zerrissenes Lachen. Nur von einem hallenden, markerschütternden Schrei aus der Ferne übertönt.
Die Figur am Boden hebt den Kopf, um K - sich selbst - in die Augen zu sehen.
Das Gesicht voller Dreck, die Augen voller Hass.
„Ich bin Verstand und Vernunft“, flüstert der am Boden liegende.
Kaum hörbar seine Stimme, bis er den Oberkörper aufrichtet und in der Gebärde eines Wahnsinnigen auf K deutet.
„EXEKUTIEREN!“ Seine Stimme- plötzlich so laut wie der Donner.
So laut wie die Schreie im Wald.
Und starr, mit aufgerissenen Augen steht K vor seinem eigenen Grab.
Dem Grab der Menschheit, in das er sich selbst richtet.
Dem Grab der Vernunft, welche es selbst ausgehoben hat.
Unerbittlich rinnen Regen und Kälte über sein Gesicht, während der Soldat die Waffe anlegt.
K möchte schreien, doch alles, was ihm bleibt, ist ungläubiges Gestammel.
Alles, was bleibt, ist nur noch ein Schritt zurück. Hinter ihm die dunkle Tiefe.
K hört den Schuss mehr, als dass er ihn spürt.
Finsternis in seiner Welt.
Schnelle, gezählte Atemzüge.
Er fällt, ohne oben und unten.
Das niederprasselnde Wasser raubt ihm die Sicht. Oder ist es der Schmerz in seiner Brust?
Ohne Verstand und Vernunft. Er fällt.
Er fällt und mit ihm die Regentropfen als hätten sie es schon immer so getan.

- Hesse -

Vor einer Lichtung kommt er zum Stehen.
Sieht die Gestalt.
Die Gestalt mit nassen Haaren und einem Leichenhemd.
Klebend.
Klebend von dem steten Regenstrom.
Hesse nimmt die Waffe zur Hand, doch ein furchtbarer Laut lässt ihn innehalten.
Ein Schrei durchbricht die Stille des Waldes.
Hesse zielt.
Die Gestalt zittert und richtet sich auf.
„ICH BIN KEIN WOLF! ICH BIN KEIN GOTT!
ICH BIN NICHT FREI! ICH LIEGE NICHT IN KETTEN!
ICH HABE KEINE VERNUNFT! ICH HABE KEINEN TRIEB!“
Die Waffe fällt Hesse aus der Hand.
Der Wald.
Der Regen.
Die Bäume.
Der Oberst am ausgehobenen Grab.
Der Waldboden in Nahaufnahme.
Dann-
schnelle verwischte Bilder.
Hesse beginnt zu verstehen- wischt sich die nasse Substanz von der kalten Haut.
Reißt sich die nassen, drückenden Kleider vom Leib.
Nackt und wie ein Neugeborenes legt er sich nieder.
Kein Weg aus diesem Wald.
Kein Weg.
Kein Weg, den Hesse beschreiten kann.
Er nimmt ein Stück Holz und beginnt zu graben.
Neben ihm eine große Buche.

- Epilog - Der Mensch

Wie lange regnet es schon?
Als ich erwache, spüre ich meine Beine nicht mehr.
Der Wald ist in tiefer Dunkelheit gehüllt und meine Schreie sind lange verhallt.
Ohne zu wissen, wie mir geschieht, setze ich mich vernebelt auf.
Nässe läuft mir über das Gesicht. Kälte aus meinem Mund.
In all der Dunkelheit erkenne ich nicht, wo ich bin.
In all der Dunkelheit erinnere ich mich- wer ich bin.
Die Hand ausgestreckt nach der Stille tastend weiß ich, dass ich noch leben muss.
Tief im Wald, tief im Schicksal.
„Bin ich alleine?“ und all die Regentropfen scheinen mir zu antworten.
Sieh dich nicht um.
Panik ergreift mich. Ich will laufen, doch mit meinen Beinen scheint etwas nicht zu stimmen.
Mühselig winde ich mich über den aufgeweichten Waldboden, der mich zu verschlingen droht.
Das nasse Laub raubt mir die Sicht auf die Dunkelheit.
Mein schneller Atem frisst sich in die Stille.
Ich halte mich an einem jungen Baumtrieb fest, doch er hält meinem Griff nicht stand und zerbricht unter der Last.
Ich versuche, um Hilfe zu schreien, doch alles was ich spüre, ist das nasse Laub auf meiner Zunge.
Wie lange habe ich geschlafen?
ICH BIN KEIN GOTT, halte es in meinen Ohren wieder.
Meine starren Finger griffen in die tiefen Narben des Waldes, irgendwo zwischen Wurzeln und Geäst.
ICH BIN NICHT FREI, das tobende Sein in meinem Kopf.
Ich grub mich weiter voran, vollkommen in meiner Furcht gefangen.
In diesem Wald gefangen.
Verfolgten sie mich noch?
ICH LIEGE NICHT IN KETTEN!, wo war das Laub als ich das gesagt hatte? Wo war meine Furcht, meine Beine, mein Atem?
Nach einer Endlosigkeit ertasten meine Finger die spröde Rinde des mächtigen Baumes. Ich weiß es muss eine Buche sein.
Mühsam ziehe ich mich über die Wurzeln.
Ich sah nichts. Doch ich spürte seine Anwesenheit.
„Hilf mir“, höre ich meine schwache, flüsternde Stimme. „hilf mir in mein Grab.“
Es hatte aufgehört zu regnen, doch das Tropfen der Laubbäume hallte durch die Finsternis.
Keine Regung an der alten Buche.
„Hesse. Ich weiß-“, doch meine röchelnde Stimme bricht, wie das Wurzelwerk unter mir. Tief falle ich.
Die Welt verlässt mich.
Tief falle ich.
Und öffne die Augen.
Jetzt. Die Augen.
Der Aufprall nimmt mir den Atem.
Mir fehlten meine Lungen und ich kann mich nicht mehr rühren.
Den Rücken auf der faulen, feuchten Erde, dem Lehm. Das nasse Geflecht von Wurzeln über mir.
Wie lange habe ich geschlafen?, frage ich mich erneut.
„Sieh dich nicht um“
Wer ist da? Hesse?, wer ist da an meinem Grab? Wer hat die Wurzeln wachsen lassen?
Geräusche dringen hinab.
Geräusche und Laub. Laub und Erde.
Geräusche des Grabens und Scharrens.
Sie begraben mich.
Laub, Erde und Lehm. So wie ich auf dem Waldboden lag, soll er nun auf mir Ruhen.
Doch ich-
„ES IST DER MENSCH DEN IHR BEGRABT!“, rufe ich mühsam mit dem letzten Atem, den ich aufbringen kann, bevor das Laub meinen Mund bedeckt und Erde die geöffneten Augen.
„SO VIEL WIR AUCH JAGEN, SO TIEF WIR AUCH GRABEN – NIEMALS STERBE ICH!
ICH BIN DER MENSCH DEN IHR BEGRABT!“
Tief unten. Im feuchten Erdreich liege ich und schlage wild um mich.
Ich bin der Mensch. Ich. Der Mensch.

(c)

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