Montag, 5. Oktober 2015
Vierundzwanzig I
Es war ein Traum gewesen.
Ich hatte sein Gesicht gesehen.
Im fremden Licht.
Laut, energisch und mit Stärke in der vollen Stimme hatte er auf mich eingeredet.
So eindrucksvoll, dass ich von seinen Worten aufgewacht war, von denen keines mehr in der Luft lag.
„Vierundzwanzig“
Schlag um Schlag gegen meine Zellentüre.
„Vierundzwanzig!“
Mit Nachdruck. Laut, energisch, Schlag um Schlag.
Laute verließen meinen Mund- jeder gut genug, um zu genügen.
„Fünfundzwanzig“
Zu gut kannte ich die Morgenroutine die sich an jeden Traum heftete und einschärfte was wir waren.
„Fünfundzwanzig!“
Zu gut kannte ich die Morgenroutine, doch an jenem Tag –
Die Stahltüren mussten so unnachgiebig sein, um den harten Worten Widerstand entgegen zu setzen. Widerstand und jedes Recht durch Halt und Stärke.
„FÜNFundzwanzig!“
Momente zwischen Stahl und Stein.
„FÜNFUNDZWANZIG!“
Ich schloss die Augen.
Drei Schläge, nein, vier. Aufgeregte Stimmen und Stahl auf Stahl, die Sprache der Aufseher.
„Fünfundzwanzig, geben Sie keine Antwort, müssen wir hereinkommen“
Totenstille.
Es war doch nur geträumt-
Sein Gesicht hatte ich gesehen. Ganz weiß war es gewesen, vom Leben entleert.
„Fünfundzwanzig, kooperieren Sie nicht, wird unverzüglich der Wärter gerufen!“
„Nein!“ Es war Zweiundzwanzig. Zwei Zellen zu meiner Linken.
Laut und kratzig erkannte ich seine Stimme.
„Nicht der Wärter! Fünfundzwanzig! Sag es Ihnen! Fünfundzwanzig! Fünfundzwanzig! Fünfundzwanzig! Fünfundzwanzig-“ Die Worte brachen ab. Oder wurden sie nur zu Geflüster?
Ein leises Wimmern.
Kein Wort meines Traumes war mir erhalten geblieben, als sie die Zellentür neben mir öffneten. Sie waren meinem Verstand einfach entglitten. Doch die glühenden Augen sprachen noch immer zu mir, wenn ich die Augen schloss.
Kein Wort.
Zweiundzwanzig war still geworden. Flüstern der Mitheftlinge huschte wie ungreifbare Geisterwesen über die Flure. Doch die meisten schwiegen über die schweren Schritte der Aufseher hinweg.
Durchbrochen durch das erneute Aufspringen der Zellentür machten die neuen Geräusche Platz für Gewalt und -
Neugierig spähte ich durch die winzigen Löcher meiner Türe.
Ich wusste es, doch ich hatte es noch nicht glauben wollen.
Ich sah es, doch ich konnte es nicht fassen.
Als ich einst noch eine andere Zelle belebt hatte, erzählte man mir, dass die Schlafpritschen unsere Särge seien.
Immer bereit zum Abtransport.
Ohne Bestattung und Andenken. Keiner wusste, was mit den Toten geschah.
Das hatte ich für ein bitteres Märchen des Wärters gehalten. Gelacht hatte ich, Vierundzwanzig.
Dass unsere Schlafpritschen Särge seien. Die Gewissheit bekam ich bei dem Anblick der sich mir bot.
Der Totentransport.
Zwei Schritte zurück. Mit Händen und Rücken an die glatte, kalte Wandfläche.
Zweiundzwanzig jaulte auf, als sie seinen Sterberaum passierten.
Weitere Stimmen gesellten sich dazu.
„Mörder!“
„Ihr lasst uns hier verrecken wie Tiere!“
Unbekannt und ohne Namen.
„Fünfundzwanzig!“
„Tiere, Tiere! Und Blut an euren Lefzen!“
Nicht alle Stimmen konnte ich zuordnen. Hallend warfen die Gänge sie zurück, dass sie mehrfach verzerrt in mein Verließ drangen.
„Blut an euren Händen!“
„Blut an euren Händen!“
Was zunächst als wildes, unkontrolliertes Geschrei begann, kanalisierte sich zunehmend in einem skurrilen Singsang.
Von dem Stahl der tausend Türen zurückgeworfen, versetzte er jeden Winkel des Gefängnisses in diese unheimliche Stimmung.
„Blut an euren Händen, Blut an euren Händen, Blut an euren Händen …“
Ich schloss erneut die Augen, als hätte ich eine andere Möglichkeit gehabt.
Konnte ich doch nur hören, nicht sehen.
Die ersten Schreie durchbrachen die leidenschaftlichen Gesänge.
Markerschütternde Schreie, die schließlich alles fraßen. Jeden Ton und jede Überzeugung.
Zu lange war ich Vierundzwanzig. Zu lange war ich wach gewesen.
Noch immer die Hände und Rücken an der eisigen Wand.
Kälte die mich von innen heraus wärmte.
Ich musste an meinen Traum denken.
Sie hatten den Wächter gerufen.
(c)

... comment