Montag, 16. November 2015
Erinnerung an ein Vergessen
Natürlich war ich nicht alleine gekommen. Als ich das Salz in meinen Lungen spürte und am Rande des Meeres stand, war ich nicht alleine.
Nicht gewillt zu sprechen. Den Mund zu öffnen und den Wind meine Seele füllen zu lassen mit all den Dingen, die von der Weite zu mir geweht wurden.
Und allem was mich je getragen hatte und verschwommen auch die Last das zu tun, was meinen Weg bestimmt hatte. Denn hier war er zu ende. Der Weg.
„Du bist hier geblieben.“
„Nein“, antwortete ich. „Ich bin gerade erst angekommen.“
Meinen Blick vermochte ich nicht von den Wellen zu richten, denen gegenüber ich mich viel zu klein und verloren vorkam.
„Du hast es mir vor sehr langer Zeit versprochen“, sagte die vertraute Stimme, die mich an diesen Ort begleitet hatte.
Am Rande des Schicksals, stand ich mir selbst an der Seite und frage mich nach meinem eigenen Gefallen.
„Für mich ist kein Augenblick vergangen“ Meine Antwort fiel bitter aus.
Es war keine Sonne am Himmel. Doch ich wusste auch ohne ihren Stand, dass sich diese Welt nicht drehte, dass die Flut nicht kam, ihre Wellen nicht an meinen Füßen brechen würden. Nur der ewige Strom berührte das Meer. Ob Wind, ob Wellen. Fern und nah.
„Glaubst du etwa, nur du hast es vergessen wollen?“
„Wer von ihnen bist du?“, fragte ich, anstatt mich umzudrehen.
„Ich bin deine Einsamkeit“
Ich hatte es nicht bemerkt, doch der Wind hatte den Sand über meine Füße gespült, vielleicht war nicht das Wasser Meer, vielleicht nicht die Wellen Wind. Womöglich war ich nicht einmal mehr am Leben.
„Ich gehe nicht mit dir“ und endlich merkte ich, dass ich müde war.
„Versprochen hast du es mir, dein Leben hast du mir anvertraut“, hörte ich mich sagen.
Und endlich merkte ich, wie müde ich war. Die Beine taten mir weh. Wie lange musste ich gestanden haben?
„Es ist eine Unendlichkeit her, viel zu lange um sich zu erinnern“, doch ich musste mich setzen. Hatte ich es vielleicht schon vergessen?
Der Blick auf das Meer, hatte er nicht schon alles ausgelöscht? Mich zurückgelassen. Es konnte noch nicht vorbei sein.
Doch- ich musste mich legen. Ich sah hinauf die grauen Wolken, die am Horizont nur mit dem Meer verschmolzen.
Mein Weggefährte setzte sich an meine Seite, legte seine Hand auf meine Brust und atmete den Wind. Es war ganz seltsam, wie eine Andacht. Ganz still war es, als hätten die Elemente entschlossen es ihm gleichzutun, sich an meine Seite zu setzen, die Hand auf meiner Brust.
„Es ist Zeit“, ganz sanft war seine Stimme. Meine Stimme.
„Was ist schon Zeit?“, fragte ich, als ich die Augen schloss. Schwer fühlten sie sich an. Verkrustet vom Salz.
Doch vielleicht war das nicht wahr, sein sanftes Lachen wurde zu dem der Dinge, der Albernheiten meiner eigenen Gedanken.
Viel zu lange hatte ich meine Augen nicht mehr geschlossen und so dauerte es eine Weile, bis ich erkannte, was ich sah.
Und die Erinnerungen erfüllten mich mit tiefer Trauer.
Es war späte Nacht, vielleicht schon die erste Helligkeit des neuen Tages. Tief im Wald war ich, an dem Ort, an dem noch der Laub des letzten Herbstes lag.
Niemand war dort. Nur ich.
Ich beobachtete meine Gestalt. Voll der Empfindungen. Voller Details, die ich noch nie gesehen hatte. Ich erinnerte mich, obwohl ich nie dort war.
Auf dem Boden vor mir kniete meine Gestalt. Trocken das Laub unter meinen Beinen, als ich, immer und immer wieder die Nacht anschrie.
Schrie und schrie, bis ich antwortete. Denn ich war nicht alleine.
„Wer bist du?“, erschrocken hatte ich mich entdeckt, die Schreie gebrochen.
„Es ist schon sehr lange her“, mein Flüstern war wie ein Meer, dass die Stille des Waldes flutete. So viel mächtiger als Schreie je hätten sein können.
„Für mich ist kein Augenblick vergangen“, sagte die kniende Gestalt.
„Für mich eine Ewigkeit“
„Ein Versprechen“.
Und nichts davon war wahr, so wenig wie es falsch war. Meine Hand auf der Brust als ich die Augen schloss, auf freiem Feld und tief unter der Erde.
Einmal fand ich mich auf dem höchsten Gipfel oder versteckt in einer toten Winterlandschaft.

Schließlich, als ich die Augen öffnete stellte ich fest, dass ich es stets gewesen war. Ist es nicht unser einziger Traum nicht mit uns alleine zu sein? Und so spürte ich jeden Schmerz der Unendlichkeit die ich mit mir selbst verbracht hatte. Versunken, vollkommen vergessen in sich selbst.
Erträumt, es gäbe ein Leben, eine Zeit, ein Verständnis.
Geträumt, es gäbe mehr als ein Bewusstsein.
Geträumt.
Doch bevor ich geschlossen hatte meine Augen, hatte ich mir das Versprechen gegeben-
(c)

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Sonntag, 8. November 2015
Der Vogel und das Meer
Ich sank, bis tief unter die Erde- Nein, es war wohl der Meeresgrund an dem ich angelangt war. Ich hätte es mir niemals so finster vorgestellt. Bis hierhin war ich dir gefolgt.
Erst waren es Schritte und dann war ich gelaufen, bis ganz außer Atem das Wasser meine Lungen gefüllt hatte.
Meine Beine davongetragen.
Der Raum sich unter mir geweitet und meine Hände der Strömung hingegeben.
So schnell war ich gelaufen, dass ich es nicht bemerkt hatte.
Wie das Eis der Ozeane an den letzten Enden meines Bewusstseins schlug.
Bis hier hin war ich dir gefolgt. Bis zum Grund.
Es war wohl zu finster, um mich zu sehen.
Denn ich hörte dich nicht sprechen.
Dort unten bei all den leeren Flaschen die ich an dich adressiert hatte.
Ich konnte sie nicht sehen, doch ihr Funkeln erhellte die Dunkelheit.
Ganz schwerelos drückte das Gewicht der Tiefe auf meine Ohren.
Weißt du? Vielleicht bist du den falschen Weg gegangen.
Und ich bin ihn gelaufen, gerannt.
Es war wohl zu finster, um dich zu sehen. Doch ich konnte deinen Atem hören.
Tief auf dem Meeresgrund, wo die Nacht zu lang und der Morgen viel zu weit waren.
Doch- ich nahm sie mir.
Ich nahm sie alle. All‘ die Worte, die ich nicht sagen konnte, voller Salzwasser die Lungen.
All‘ die Briefe die ich dir nie geschrieben hatte.
Weggetragen von den Wellen, die hier unten nicht möglich waren.
Sie drückten.
So schloss ich meine Augen, die Arme reckten sich ganz wie von selbst, hinauf, hinauf.
Vielleicht würde ich zu einem Vogel werden. Weit weg vom Meer.
Hinauf, zu den Wellen. Sich unter dem Meeresgrund nichts mehr befand.
Es war wohl zu finster, mich zu sehen.
Ganz blind, absonderlich in der tiefen Nacht des Meeres.
Mit dem Kopf zuerst. Verließ ich diesen Ort.
Die Federn ganz dicht um mich geschlossen, nicht zu sinken.
Das Meer führt nur seine eigenen Tränen.
Hinauf, hinauf!
Ein Vogel.
Vielleicht war ich es. Er, versunken im Gedanken über sich, in einem geliebten Traum.
(c)

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Mittwoch, 7. Oktober 2015
Vierundzwanzig IV (Das Ende des Traumes)
Meine Augen aufgerissen starrte ich an die Decke meines Verließ. Es musste Nacht sein. Die Anlage lag ruhig, kaum Stimmen und nur das Summen der Belüftungsanlage drang gleichmäßig und vertraut in meinen Verstand.
„Hast du schon einmal daran gedacht auszubrechen?“
Es mussten Stunden vergangen sein, meine Gelenke und Muskeln schmerzten. Doch ich musste es wissen.
„Vierundzwanzig?“, flüsterte ich.
„Nein“, es war nur ein kratziges Hauchen. „Ich habe keinen Namen. Da draußen.“
Gedankenverloren nickte ich, als könnte er mich sehen. In meinen Ketten.
„Woher weißt du dann von ihm?“
„Du hast im Schlaf geredet. Von seinen Augen. Erzähl mir davon.“
Ich schwieg eine Weile.
„Er ist der Wärter, er ist der Wärter der Welt, des Todes und des Tanzes unserer Leben. Vor vielen Jahren habe ich ihn das erste mal gesehen. Sein Bild war in mein Hirn eingebrannt, wie ein Mal…“
Zu laut waren die Ketten, als ich mich versuchte in die Richtung meiner Nachbarszelle zu drehen. Mein Herzschlag lauter.
„Er ist der Wärter- immer wenn ich meine Augen geschlossen hatte, sah ich die seinen vor mir. Er ist in den Köpfen derer, die auszubrechen wagen, die sich weigern so zu leben, wie es richtig und rechtens ist. Ich kannte nur noch einen Traum. Den Wächter, wie er in fremden Licht vor mir steht, mit tiefer Stimme auf mich einredend, als sei ich ein Verdammter.“
Ob noch andere meiner Erzählung lauschten?
„Ich konnte noch so sehr den Schlaf verweigern. Eines Tages kommt er einen holen. Er holt jeden, der sich ihm widersetzt. Und der eigene Wille verblasst. Unbekannt und ohne Namen, so kamen wir hierher.“
„UND DANN LASSEN SIE UNS STERBEN!“, Zweiundzwanzig heulte auf.
Ein Beben schien durch die Gänge zu zittern, tief in der Nacht, doch keiner der Häftlinge schlief.
Stille folgte. Vielleicht flüsterten noch die einen oder anderen Häftlinge die Parole.
Blut an euren Händen
Doch womöglich bildete ich mir das nur ein.

Es gab nichts, was ich über meinen Gefangenenaufenthalt mehr genossen hätte, als den traumlosen Schlaf.
Doch dieser war unruhig. Nicht selten erwachte ich, spürte im halb wachen Zustand meine Ketten.
Nicht selten schlief ich, spürte in der Tiefe seiner Anwesenheit.
„Du hast im Schlaf geredet“
Die Stimme viel näher als gewohnt.
Als ich mich aufsetze fehlen die Ketten und die Mauern meines Verließ scheinen näher gekommen zu sein.
Alles in Bewegung, ich träumte wohl doch.
„Weißt du wie Fünfundzwanzig starb?“ Warum klang er so verdammt nah?
„Wo sind wir?“ Meine Handgelenke schmerzten und mein Bewusstsein versuchte den Ortswechsel zu verarbeiten.
Die Tage, Wochen und Jahre – ich hatte sie nicht zählen können in einem Gefängnis ohne Licht.
Wer wusste denn schon, ob es sie überhaupt noch gab, die Zeit.
„Das ist der Gefangenentransport“
Nicht die Worte waren es, die mich schaudern ließen. Es war Dreiundzwanzigs Stimme.
„Bin ich tot?“, die Wände abtastend suchte ich nach einem Hinweis, nach Halt, nach dem Sarg in dem ich seither jede Nacht schlief. Doch ich saß aufrecht in der kleinen finsteren Zelle, die gerade genug Platz bot, um sich darin aufrecht halten zu können.
„Oh, nein, das bist du nicht…“ Dreiundzwanzig musste sich in der Zelle neben mir befinden, so nah klang er.
„Wo bringen sie uns dann hin?“
„Ahnst du es denn nicht?“
Zu gerne hätte ich sein Gesicht gesehen. Den Ausdruck in seinen Augen.
Das letzte Gesicht was ich sah, war im fremden Licht, tief in meinen Träumen.
„Du weißt, wie Fünfundzwanzig gestorben ist, nicht wahr?“, fragte Dreiundzwanzig erneut.
Sie schleppten sich so dahin, die Sekunden.
„Nein…“
„In seinem Traum“, flüsterte mein Zellennachbar, mein Mitreisender. „Er ist an seinem Traum gestorben“
Ich konnte mich nicht mehr an die Worte erinnern. Seine Worte in jener Nacht, so eindringlich hatte er noch nie auf mich eingeredet. Es war wohl eine Einbildung, aber ich glaubte, nein, ich war mir sicher: Dieser Traum war der mächtigste, den ich je geträumt hatte.
Natürlich hatte ich gewusst, wie mein Kerkergenosse gestorben war. Wie hatte ich das nur vergessen können?
Der Totentransport.
„Der Wärter-“, flüsterte ich. Die Worte verschluckt von den fremden Geräuschen der Fahrt.
Seine Macht hatte mich umschlungen.
Oft war ich zu wach gewesen für meine Gedanken.
Oft hatte ich sie nicht hören wollen.
Der Wärter.
„Wohin bringen sie uns?“, vielleicht hätte ich die Frage nicht so laut stellen dürfen, doch ich konnte meine Finger nicht mehr spüren, so abwesend waren die Ketten.
„Wohin, Dreinundzwanzig?“, wiederholte ich meine Frage, auf die keine Antwort mehr folgte.
Ich konnte ihn atmen hören.
Das war eine seltsame Nähe nach Jahren der Isolation.
„Ich bin nicht Dreiundzwanzig“
Ein Rucken durchfuhr das Fahrzeug. Ungewohnt dieser Bewegungen, versuchte ich mich hilflos an den Wänden zu halten, doch es waren keine Ketten dort.
Doch unbeeindruckt fuhr mein Gesprächspartner fort. „Es ist nur so, das ich jeden morgen antworte, wenn sie diese Zahl nennen. Es ist nur so, dass ich ein Bewohner dieser Zelle bin – ohne Name und Leben. Es ist nur so, weil ich es wünsche.“
„Was für ein Unsinn!“, brach ich hervor. Meine Glieder schmerzten als hätte der winzige Vogel seine Flamme in mir entzündet, entzündet, bevor er starb. „Niemand wünscht sich diese Gefangenschaft. Was für ein Unsinn!“
Ich wollte nicht schreien, doch der kleine Raum schien meine Stimme mächtiger werden zu lassen als ich es beabsichtigte.
„Du hast wohl nie darüber nachgedacht“, mein Zellennachbar schien noch etwas näher an die seinige Hälfte der Wand gerückt zu sein, denn seine leise gesprochenen Worte waren in meinen Ohren lauter als mein Geschrei. „Du hast wohl nie darüber nachgedacht, wem dieses Gefängnis eine entsetzliche Freude bereitet“
Abrupt und mit voller Gewalt hielt unsere fahrende Unterkunft. Unsanft wurde ich gegen die Wand gepresst, die mich von Dreiundzwanzig trennte.
„Wo sind wir?“, seit Jahren hatte ich mir keine Gedanken mehr darüber machen müssen, doch jetzt war es essentiell. „Wohin haben sie uns gebracht?“
Als Antwort hörte ich allerdings nur das Öffnen der Tür meines Nachbars. Ganz ohne zutun. Ganz ohne Aufseher und ohne kreischende Mitheftlinge.
Zwei Schritte und er war an meiner Tür. Nur Zentimeter von mir entfernt.
„Ich bin nicht Dreiundzwanzig“, sagte die Stimme von der ich mir vorgestellt hatte, dass sie zu dieser Nummer gehörte. „Dass ich keinen Namen trage, habe dir gesagt. Alles habe ich dir gesagt.“
„Das träume ich nur…“, als die Morgensonne durch die Spalten meines Käfigs drang und die Wogen in meinem Geist glättete, das fremde Licht, öffnete sich die Tür.
Ich hatte seine Worte vergessen. In jener Nacht.
„Du weißt, wie er gestorben ist“, glühend waren seine Augen, wie er so auf mich einsprach.
„Du bist nicht Dreiundzwanzig“
Ich wusste nicht einmal ob er mein Flüstern hörte.
Laut und energisch war seine Stimme, ganz klar, das es sich hätte tief in mein Bewusstsein brennen müssen, als er antwortete:
„Ich bin der Wärter. Ich bin alles was du liebst und was du hasst. Ich knechte dich für dein Leben, denn dein Leben ist nicht besser oder schlechter als die Träume, denen du nicht nachgehst. Ich knechte dich für deine Wünsche, deine Menschlichkeit, deine Leidenschaft. Niemals werde ich dich verlassen, lieben sollst du mich, denn ich dir deiner Ketten Halt. Niemals werde ich dich enttäuschen, so lange du noch träumen kannst, denn ich bin die wahrhaftig gewordene Enttäuschung“


Es war ein Traum gewesen.
Ich hatte sein Gesicht gesehen.
Im fremden Licht.
„Dreiundzwanzig“
Schlag um Schlag gegen diese Zellentüre.
„Dreiundzwanzig!“
Mit Nachdruck. Laut, energisch, Schlag um Schlag.
„DREIundzwanzig!“
Momente zwischen Stahl und Stein.
„DREIUNDZWANZIG!“
Ich schloss die Augen.
Drei Schläge, nein, vier. Aufgeregte Stimmen und Stahl auf Stahl, ich kenne sie, die Sprache der Aufseher.
„Dreiundzwanzig, geben Sie keine Antwort, müssen wir hereinkommen“
Totenstille.
Kein Wort meines Traumes war mir erhalten geblieben, als sie die Zellentür neben mir öffneten. Sie waren meinem Verstand einfach entglitten. Doch die glühenden Augen sprachen noch immer zu mir, wenn ich die Augen schloss.
Kein Wort.
Es war doch nur geträumt-
(c)

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